Der Opal
man unter den gegebenen Umständen machen konnte. Die beiden hätte sie vielleicht noch erkannt, aber die anderen? Alle gleich. Sogar die Stimmen klangen in den Helmlautsprechern bemerkenswert gleich. Und obwohl sie ganz nahe bei dem Soldat stand, der das erste Opfer der ST werden sollte, bekam er selbst bei seinem Tod weder einen Namen noch ein Gesicht. Als sie wirklich verstand, was passierte, war er nur noch rohes Fleisch.
Die Plattformen, die zwei, drei Tage weit oben über ihren Köpfen geschwebt waren, kamen gerade herunter, als es passierte. Haku hatte bestimmt, dass die alte Marschordnung wieder gelten sollte: fünfzig Mann auf den Plattformen, fünfzig am Boden. Der erste Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, war der seltsame Nebel, der vor ihrem Visier aufstieg, und als sie an sich selbst heruntersah, stellte sie fest, dass ihr Anzug auf seiner Oberfläche zu kochen schien. Säure, war ihr erster Gedanke, denn so sah es aus, was sich da auf der äußersten Schutzschicht ihres Anzugs abspielte – als hätte sie jemand mit einer sehr aggressiven Säure überschüttet. Furchtbar schrille Schreie, ganz in ihrer Nähe. »Enzyme!«, brüllte ein anderer, und alles um sie herum spritzte weg wie heißes Wasser. Chaos. Sie war zu taub und zu überrascht, um gleich zu reagieren. Ihr Anzug rauchte, sie bewegte sich in kleinen Schritten langsam rückwärts, der diffuse Schatten der herunterkommenden Plattform wurde größer, Geschrei in ihren Ohren – alles gleichzeitig. Sie war schockstill und sah den Soldaten sterben. Er musste genau das getan haben, was Haku ihnen wieder und wieder verboten hatte: Er musste seinen Helm im Anzug versenkt haben, vielleicht aus Übermut, vielleicht weil er ungefilterte Luft atmen wollte, vielleicht weil er dachte, es werde schon nichts passieren. Jetzt rannte er wie ein geköpftes Huhn im Schatten der herunterkommenden Plattform umher und rieb sich mit den Handschuhen seines Anzugs über das Gesicht. Er brüllte und brüllte. Auch sein Anzug rauchte, Latil erwartete jede Sekunde, ihn wie Papier in Flammen aufgehen zu sehen. Stattdessen hörte er auf zu schreien und fiel auf die Knie. Die Hände lösten sich von seinem Gesicht und zogen die ganze Haut mit herunter. Die Augen waren ausgelaufen, der Mund ein schwarzes Loch in der roten Fleischmaske, der Hals platzte auf wie eine gebratene Wurst, als sich der Kopf nach hinten bog. Die ST verdaute ihn. Mit furchtbarer Langsamkeit wand er sich von links nach rechts, schwankend, aber immer noch stabil auf seinen Knien, und es war die schreckliche Langsamkeit dieser bloß noch nervengesteuerten Bewegung, die Latil beinah zum Kotzen brachte. Der sterbende Soldat wurde plötzlich umgerissen und lag dann still auf dem Boden. Die Plattform, die noch auf ihrem Weg nach unten gewesen war, senkte sich weiter ab, blieb dann aber über dem Toten stehen. Eytarri zielte mit seiner Stabwaffe noch auf die Leiche, das gelbe Licht über dem Daumen seines rechten Handschuhs zeigte an, dass sich das Gewehr gerade wieder auflud.
»Auf die Plattformen!«, schrie jemand. »Alles auf die Plattformen!«, und die Soldaten kamen in Bewegung. Chaos. Man drängte sich auf den vier benutzbaren Plattformen, während die Programmierung der fünften sich dagegen sperrte, einen Menschen unter sich zu begraben. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zur Seite manövriert werden konnte. Eine gute Minute verging, bis auch sie besetzt war, danach nahmen alle schnell eine Höhe von etwa fünfzehn Metern ein. Selbst aus dieser Höhe war gut zu erkennen, dass der Schädel des toten Soldaten schon skelettiert war. Er lag friedlich auf der Seite. Die Waffe in einem halben Meter Entfernung von seinem Körper ähnelte einem Gehstock, obwohl sie eigentlich zu dünn dazu war. Alle schauten hinab. Niemand sagte etwas. Die Anzüge hatten aufgehört zu rauchen, der Enzymangriff war offensichtlich vorbei. Gleich neben Latil machte sich jemand an einem seltsam geformten Gerät zu schaffen. Es sah wie eine der Stabwaffen aus, nur hatte es dort, wo bei den Gewehren die kleine Endgabel war, eine eigenartige Verdickung, die es sehr kopflastig machte. Latils Gehirn funktionierte noch nicht richtig, sie stand noch unter Schock, aber schließlich spuckte ihr Gehirn erst den Begriff ›Raketenwerfer‹ und dann den Namen ›Haku‹ aus. Als sie so weit war, legte Haku schon an, die Verdickung zeigte nach unten, zum Boden, etwa dorthin, wo der tote Soldat lag. Sie wollte sagen: »Willst du uns
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