Der Orden
paar Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag. Sie wurde von einem schmerzhaften Krampf in ihrem Bauch geweckt. Dann taten ihr die Schenkel weh. Als sie hinunterlangte und ihre Beine berührte, fühlte sie Nässe.
Zuerst verspürte sie nur eine entsetzliche Verlegenheit. Sie bildete sich ein, ins Bett gemacht zu haben, als wäre sie ein kleines, unbeholfenes Kind. Sie stand auf und tappte durch den ganzen Schlafsaal, vorbei an den dreifachen Etagenbetten, den hundert Mädchen, die allein in diesem riesigen Raum schliefen, zum Badezimmer.
Und dort, im grellen Neonlicht des Badezimmers, entdeckte sie die Wahrheit: Die Flüssigkeit zwischen ihren Beinen, an ihren Fingern und ihrem Nachthemd war keineswegs Urin, sondern Blut – seltsames Blut, hellrot und dünn. Sie wusste natürlich, was das bedeutete. Ihr Körper veränderte sich. Aber das Schamgefühl wollte nicht verschwinden, es verstärkte sich stattdessen und wurde nun von einer tiefen, bleibenden Furcht ergänzt.
Warum ich?, dachte sie. Warum ich?
Sie säuberte sich und ging wieder ins Bett, vorbei an den Reihen sich regender Mädchen, von denen sich viele umdrehten und leise vor sich hinmurmelten, vielleicht verwirrt von ihrem Geruch.
Es gelang Lucia, diese erste Blutung vor den anderen zu verbergen, die ständig um sie herum waren, vor Idina, Angela, Rosaria und Rosetta, ihren schnatternden Schwestern mit den hellgrauen Augen, die sich alle so ähnlich sahen. Man sollte natürlich keine Geheimnisse voreinander haben. Jeder wusste das. In der Krypta sollte es keine Geheimnisse geben. Aber Lucia hatte nun ein Geheimnis.
Und dann kam ihre zweite Periode, während eines Arbeitstages. Der stechende Schmerz warnte sie rechtzeitig, sodass sie wieder ins Badezimmer eilen konnte. Die Zellen besaßen natürlich keine Türen – obwohl es Lucia vor ihrer Menarche gar nicht aufgefallen war, dass sie fehlten –, aber zu ihrem Glück fand sie den Raum leer vor und konnte erneut verbergen, was geschehen war, obwohl sie sich übergab und die Schmerzen diesmal tagelang anhielten.
Doch nun hatte sie ihr Geheimnis verschlimmert.
Sie hasste die Situation. Das Wichtigste war für sie, wie die Menschen um sie herum über sie dachten. Die anderen Mädchen waren ihre ganze Welt. Sie war Tag und Nacht mit ihnen zusammen, umgeben von ihrem Geruch, ihren Berührungen und Küssen, ihren Gesprächen und Blicken, ihren Urteilen und Meinungen; sie war von ihnen geformt, so wie die anderen wiederum von ihr geformt waren. Doch seit sie über das Durchschnittsmaß hinausgewachsen war – etwa im Alter von zehn Jahren –, waren subtile Barrieren zwischen ihr und ihren alten Freundinnen entstanden. Als sich im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren ihre Hüften und Brüste zu entwickeln begonnen hatten, war es noch schlimmer geworden, denn bald hatte sie ausgesehen wie eine junge Frau unter Kindern. Und nun dies.
Sie wollte das alles nicht. Sie wollte genauso sein wie alle anderen; sie wollte nicht anders sein. Sie wollte in die Spiele einbezogen werden, in den Klatsch, was Anna zu Wanda gesagt hatte, dass Rita und Rosetta sich gestritten hatten und Angela sich zwischen ihnen würde entscheiden müssen… Sie wollte nicht über Blut zwischen ihren Beinen und Schmerzen in ihrem Bauch reden.
Aber sie musste es jemandem erzählen. Also erzählte sie es Pina.
Sie tat es während einer Kaffeepause bei der Arbeit.
Es war November, und Lucia hatte gerade Schulferien. Sie arbeitete nun schon das zweite Jahr im scrinium. Das war ein altes lateinisches Wort und bedeutete »Archiv«. Trotz des altertümlichen Namens war es ein modernes, helles Großraumbüro mit Nischen und Trennwänden, PCs und Laptops, geschmückt mit Topfpflanzen und Kalendern; Lichtschächte ließen das Tageslicht von der Welt oben ein. Dieser helle, anonyme Saal hätte ein Büroraum in irgendeiner Bank oder einem Ministerium sein können. Selbst das allgegenwärtige Symbol des Ordens, zwei schematische, einander zugewandte Fische, deren Mäuler sich berührten, hing in Bronze und Chrom an der Wand wie ein Firmenzeichen. Nicht selten sah man sogar ein oder zwei contadini im scrinium – im Wortsinn »Landbewohner« oder »Bauer«, hier jedoch eine Bezeichnung für Außenstehende, nicht zum Orden Gehörige.
Hinter dem Büroraum lag ein Computerzentrum, ein großer, klimatisierter Raum, in dem Hochleistungscomputer in bläulichem Licht summten und surrten. Und dahinter wiederum waren Bibliotheken, endlos lange, hallende
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