Der Orden
Gänge mit gedämpfter Beleuchtung und Brandschutzausrüstung. Lucia wusste nicht – niemand aus ihrem Kreis wusste es –, wie weit sich diese in den weichen Tuffstein getriebenen Gänge in die Dunkelheit erstreckten; sie kam nicht einmal auf die Idee, diese Frage zu stellen. Aber es hieß, wenn man weit genug ging, wichen die Bücher Tierhaut- und Papyrusrollen, Tafeln mit lateinischen oder griechischen Buchstaben, die in Tonflächen gekratzt waren, und sogar ein paar beschrifteten Steintafeln.
In diesen miteinander verbundenen Gewölben lagerte der Orden seit der Gründung vor sechzehnhundert Jahren seine Aufzeichnungen. Heutzutage war das Archiv wertvoller denn je, denn es war eine entscheidende Einkommensquelle für den Orden geworden. Er verkaufte – heutzutage häufig übers Internet – Informationen an Historiker, akademische Einrichtungen, Regierungen und Amateurgenealogen, die den Wurzeln ihrer Familien nachspürten.
Lucia arbeitete hier als untergeordnete Schreibkraft – oder, in der manchmal archaischen Sprache des Ordens, als eine der scrinarii – unter einer bibliothecaria, die die Aufsicht führte. Einen Teil ihrer Zeit verbrachte sie am Computer, wo sie Unterlagen aus verschiedenen Quellen transkribierte und mit Querverweisen versah. Aber hauptsächlich war sie mit Transkriptionen beschäftigt. Sie kopierte Aufzeichnungen handschriftlich von Computerbildschirmen und Ausdrucken auf Bögen aus Hadernpapier.
Der Orden stellte sein eigenes Hadernpapier her. Früher hatte man dazu Stoff mit großen, von Tieren angetriebenen Hämmern zerstampft, jetzt jedoch erzeugte man es direkt aus Baumwolle in einem Raum, der von elektrischen Hochleistungsgeräten summte. Es war eine mittelalterliche Technik. Aber das säurefreie und mit speziellen säurefesten Tinten beschriftete Hadernpapier hielt viel länger als jedes holzhaltige Papier. Der Orden hatte wenig Vertrauen in digitale Archive; es gab bereits Schwierigkeiten, an Unterlagen in älteren, technisch überholten Generationen von Computern und Speichermedien heranzukommen. Wenn man die Zeit ernsthaft herausfordern wollte, war Hadernpapier das richtige Mittel.
Daher Lucias paradox altmodische Aufgabe. Aber ihr gefiel die Arbeit eigentlich ganz gut, obwohl sie Routine war. Das Papier fühlte sich immer weich und merkwürdig warm an, verglichen mit dem groben Material, das man aus Holz gewann.
Bei dieser Arbeit hatte Lucia gelernt, wie wichtig Akkuratesse war; das beste Verkaufsargument des Archivs, abgesehen von seiner historischen Tiefe, war seine konkurrenzlose Zuverlässigkeit. Und Lucias Handschrift war sorgfältig, ordentlich – und akkurat, wie es sich bei den dreifachen Überprüfungen erwies, denen ihre gesamte Arbeit unterzogen wurde. Ihre Vorgesetzten meinten, das scrinium werde wohl ihr beruflicher Weg in die Zukunft sein, wenn sie mit der Schule fertig sei.
Aber das war nun natürlich – wie alles andere in ihrem Leben – durch die unerwünschte Frauwerdung der Unwägbarkeit anheimgefallen.
Pina saß auf Lucias Pult, die Hände wie zum Gebet über den Knien verschränkt. Eine Privatsphäre gab es nicht, weder hier noch woanders; an diesem Morgen waren bestimmt um die fünfzig Personen im Büro, die arbeiteten oder plauderten, und die hüfthohen Trennwände verbargen nichts. Lucia sprach so leise, dass Pina sich nah zu ihr beugen musste, um es zu hören.
Pina war zehn Jahre älter als Lucia. Sie hatte ein kleines, hübsches Gesicht, fand Lucia, ohne Wangenknochen, aber von angenehmer Glätte. Ihre Augen waren ein bisschen dunkler als die der meisten, eine Art Grafitgrau, und sie trug die Haare ordentlich zurückgekämmt. Ihr kleiner Mund war nicht sehr ausdrucksvoll, wenn sie sprach, was ihr im Vergleich zu anderen Mädchen eine Aura der Ernsthaftigkeit verlieh – zusammen mit dem zehnjährigen Altersunterschied natürlich. Dennoch ähnelten ihre Züge stark denen aller anderen, einschließlich Lucias; sie hatte das typische ovale Gesicht, und auch ihre grauen Augen lagen durchaus innerhalb des Variationsbereichs.
Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre war sie jedoch klein, kleiner als Lucia, mit schlanker Figur, ihre Brüste nur winzige Wölbungen unter der weißen Bluse, die sie trug.
Sie war seit Lucias erstem Tag hier im scrinium freundlich zu ihr gewesen, hatte sie in die Arbeit eingewiesen und ihr so elementare Dinge wie die Bedienung der Kaffeemaschine beigebracht. Jetzt schien Pina sich unwohl zu fühlen, dachte Lucia, aber sie
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