Der Orden
hörte zu.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Jedenfalls hast du mich jetzt in dein Geheimnis eingeweiht.«
»Tut mir Leid. Wenn nur einer es kennt, ist es ein Geheimnis, wenn zwei es kennen…«
»Ist es eine Verschwörung«, vervollständigte Pina den Satz, den sie in der Kinderkrippe immer alle gemeinsam aufgesagt hatten. »Also, ich vergebe dir. Vor allem, weil es nicht mehr lange geheim bleiben kann.«
Lucia schnitt ein Gesicht. »Ich will das alles nicht. Ich wollte nie größer sein – und ich will auch diese Blutung nicht.«
»Sie ist nicht unnatürlich.«
»Ja, aber warum ich? Ich fühle mich…«
»Verraten? Verraten von deinem eigenen Körper?« Pina berührte sie am Arm, eine Geste der Unterstützung. »Falls es dir ein Trost ist, ich glaube nicht, dass du die Einzige bist… Mein Gedächtnis reicht wohl ein bisschen weiter zurück als deins. In den letzten drei Jahren hat sich einiges geändert. Die Leute waren« – sie wedelte vage mit der Hand – »aufgeregt. Jeden Sommer kommen die neuen Kader von den Schulen unten herauf, lauter frische Gesichter mit strahlendem Lächeln, wie Blumenfelder. Immer bezaubernd. Und jedes Mal sind ein oder zwei darunter, die aus der Menge herausragen.«
»Wie ich.«
»Aber in den letzten drei Jahren waren es mehr.« Pina hob die Schultern. »Manche sagen, es gebe Probleme mit den matres. Vielleicht bringt uns das irgendwie alle durcheinander.«
Lucia hatte das Wort matres erst ein paarmal in ihrem Leben gehört. Einige nannten diese mysteriösen Figuren auch mamme-nonne – die Mutter-Großmütter. Sie hatte nur eine sehr undeutliche Vorstellung von ihnen. Unwissenheit ist Stärke – ein weiterer Leitsatz aus der Kinderkrippe. Über Themen wie die matres sollte man nicht einmal reden.
Sie wich vor Pina zurück. Auf einmal war es ihr zu viel; sie durchbrach zu viele Tabugrenzen. »Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie.
»Warum sprichst du nicht mit jemandem?«
»Mit wem denn? Davon will doch niemand was wissen.«
»Ich meine nicht die Mädchen in deinem Schlafsaal.« Pina überlegte kurz. »Wie wäre es mit Rosa Poole?«
Lucia kannte Rosa, eine Frau in den Vierzigern, die in den entfernteren Schichten der Ordensverwaltung arbeitete. Rosa hatte in Lucias Klassen ein paarmal Vorträge über Aspekte der Informationstechnologie gehalten – Datenbankdesign, Programmiertheorie.
»Mit Rosa kann man reden«, sagte Pina ernst. »Sie weiß bestimmt, was du tun musst.«
»Tun?«
Pina seufzte. »Na ja, zunächst mal wirst du Handtücher brauchen, nicht wahr? Du musst praktisch denken, meine Liebe. Und danach… Tja, ich weiß nicht so genau.«
»Weil es dir nicht passiert ist.«
Pina achtete sorgfältig darauf, keine Miene zu verziehen, aber Lucia, deren Nerven angespannt waren, glaubte trotzdem, im Gesicht ihrer Freundin einen Hauch von Selbstgefälligkeit zu entdecken. »Ganz recht. Was heißt, dass ich dir nicht sehr nützlich bin. Aber Rosa könnte dir helfen. Für ein Mitglied der cupola ist sie ganz umgänglich.« Theoretisch gab es im Orden zwar keine Hierarchie, aber in der Praxis existierte stets eine provisorische Befehlskette unter den älteren Frauen, die alle inoffiziell cupola nannten.
»Ich weiß nicht, Pina.«
»Du denkst, wenn du es geheim hältst, geht es vielleicht wieder weg«, sagte Pina ein bisschen grob. »Du denkst, wenn du mit jemandem wie Rosa redest, wird es dadurch real.« Sie musterte Lucia eingehend. »Du denkst, schon wenn du mit mir darüber redest, wird es real, nicht wahr?«
»So was in der Art«, sagte Lucia widerstrebend. »Das ist sehr schwierig.«
Pina sagte leise: »Wir kriegen das schon hin, Lucia. Nur keine Angst. Du bist nicht allein.«
Lucia lächelte, aber es war ein gezwungenes Lächeln. Sie sehnte sich einzig und allein danach, die Uhr ein paar Wochen zurückzudrehen, in die Zeit, bevor die Blutung sie heimgesucht hatte – oder noch besser zwei, drei oder vier Jahre zurück, in die Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen wie alle anderen gewesen war, eine von vielen, unsichtbar.
Wie sich herausstellte, blieb ihr Geheimnis keine vierundzwanzig Stunden mehr gewahrt. Nicht sie ging zu Rosa Poole von der cupola. Pina tat es an ihrer Stelle.
18
Artorius ließ sie auf den alten Straßen tagelang nach Westen marschieren. Nachts schliefen sie im Freien, vielleicht geschützt von einem eilig errichteten Schuppen, und ihr einziges Bettzeug war die überschüssige Kleidung, die sie bei sich
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