Der Orden
besitzt Willenskraft, Lucia, Charakterstärke. Nur wenige deiner Altersgenossinnen hätten so viel ausgehalten. Und wir brauchen Kraft, um uns der Zukunft zu stellen. Die Welt verändert sich, und der Orden muss sich mit ihr verändern. Wir sind darauf angewiesen, dass unsere Kinder in gewissem Ausmaß eigenständig denken, dass sie den Willen zeigen, das Unbekannte zu akzeptieren – auch wenn es paradox erscheint, denn wenn der Orden weiterexistieren soll, müssen wir alle unseren Platz darin akzeptieren und dürfen nicht zu intensiv nachdenken, wie du aus eigener leidvoller Erfahrung weißt.«
»Es ist unmöglich«, sagte Lucia mit leiser Stimme.
»Nein.« Rosa fasste sie am Arm. »Nur ein bisschen schwer vorstellbar, das ist alles. Und hier ist nun der Mann, mit dem ich dich bekannt machen möchte.«
Lucia drehte sich um. Der Mann war direkt hinter ihnen. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
Er war vielleicht dreißig und größer und massiger als Lucia; sein Körper wirkte ein bisschen weich und schwabbelig, und seine Haut war blass. Er trug legere Kleidung, ein hellblaues Hemd und Jeans; Seine Haare waren dunkel und ordentlich gekämmt, aber seine Züge ähnelten denen der Schwestern, von Lucia und Rosa selbst.
Er lächelte sie an. Und als er einen kurzen Blick auf Lucias Körper warf, flammte in seinen grauen Augen etwas von der Intensität der contadino-Jungen auf.
Rosa berührte Lucias Lippen mit einer Fingerspitze. »Sag nichts. Ihr dürft nicht miteinander reden. Lucia, das ist Giuliano Andreoli. Streng genommen ist er ein contadino. Aber eigentlich ist er ein entfernter Verwandter von dir – das sieht man schon an der Hautfarbe. Du kannst ihn im scrinium nachschlagen, wenn du willst. Er wohnt in Venedig. Er ist Maurer… ich glaube, das reicht. Komm jetzt.«
Sie packte Lucia am Arm und führte sie davon. Lucia schaute sich um, aber Giuliano war bereits hinter der Biegung des Korridors verschwunden.
»Ich verstehe nicht«, flüsterte Lucia.
»Reproduktionsbiologie, Lucia. Um Babys zu produzieren, braucht man nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Natürlich machen die neuen Biotechnologien heutzutage alles möglich, aber die alten Methoden sind die besten, finde ich. Fünfundneunzig Prozent der Babys, die hier zur Welt kommen, sind Mädchen. Die meisten Jungen verlassen uns nach der Schule, und diejenigen, die bleiben, sind fast alle homosexuell oder Neutren.« Neutren: was für ein seltsamer, kalter, klinischer Begriff. »Also, wo kommen die Väter her?«, fuhr Rosa fort. »Von draußen natürlich – obwohl wir nach Möglichkeit dafür sorgen, dass es in der Familie bleibt.«
Lucia blieb stehen. »Rosa, bitte – wer ist Giuliano?«
Rosa lächelte, aber in ihrer Miene lag eine wehmütige Traurigkeit. »Dein Geliebter.«
28
Es würde eine Mehrfachzeremonie werden, dachte Regina, eine Feier des Lebens, der Mutterschaft und komplizierter Beziehungen in einem.
Zunächst war da die Geburt von Reginas Nichte Aemilia, der Tochter von Leda, Reginas Halbschwester. Dann hatte Venus ihre Menarche bekommen. Venus war die Tochter von Messalina und die Enkelin von Reginas Tante Helena. Und im Mittelpunkt würde die Hochzeit von Reginas Tochter Brica mit dem jungen, klaräugigen Freigelassenen Castor stehen.
Sie hatte beschlossen, all dies beim Frühlingsfest Beltane zu zelebrieren, wenn nach der Tradition der Celtae die Wärme der zurückkehrenden Sonne und die Fruchtbarkeit der Erde gefeiert wurden. Regina und Brica waren nun bereits seit zwei Jahren in Rom, und es würde eine hübsche Erinnerung an ihre Zeit bei Artorius sein.
Natürlich sorgten ihre ausgeklügelten Pläne sofort für erhebliches Durcheinander. Tagelang war das große Gemeinschaftshaus des Ordens an der Via Appia von Kochdünsten, dem Lärm von Musikinstrumenten, an denen ungeschickte Hände übten, und dem Gehämmer erfüllt, mit dem überall Dekorationen angenagelt wurden.
Alles lief genau so, wie Regina es wollte. Sie brauchten nämlich eine Ablenkung von der bedrohlichen Anwesenheit der Vandalen, jener Furcht erregenden Horde schwarz bemalter Barbaren, die zu diesem Zeitpunkt, wie es hieß, auf der Ebene nördlich von Rom lagerten.
Am Tag vor der Feier kam Amator sie im Haus des Ordens besuchen.
Er marschierte in ihr kleines Arbeitszimmer, strich um die Regale und Schränke und befingerte die aufgehäuften Schriftrollen und Wachstafeln. Er war stark geschminkt; seine Wangen waren weiß gepudert, und seine Augen
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