Der Orden
verschwommenen, längst vergessenen Bildern aus der Kindheit. Ich merkte, wie ich um Fassung rang.
Sie trat zurück und betrachtete mich. Ihr Gesicht hatte solche Ähnlichkeit mit meinem, ihre Miene war kühl. »Bitte.« Sie deutete auf einen Stuhl. Mit ungezwungener Selbstverständlichkeit rief sie den Kellner herbei und bestellte einen Cappuccino.
»Tja, lang ist’s her«, sagte ich schroff.
Sie zuckte die Achseln. »Dafür können wir nichts.«
»Ich weiß. Aber es ist trotzdem verdammt merkwürdig.«
Sie begann, in lebhaftem Ton von der Kirche gegenüber zu sprechen. »Hattest du Zeit, sie dir anzusehen? Domine Quo Vadis – ›Herr, wohin gehst du?‹ Petrus war aus dem römischen Gefängnis geflohen, und hier traf er Jesus und stellte ihm diese Frage. Jesus antwortete: ›Ich gehe, mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen.‹ Er hinterließ seine Fußspuren in der Straße. Man kann sie im Innern der Kirche sehen. Aber wenn sie echt sind, hat Christus große Füße gehabt…« Sie lachte.
Sie sprach flüssig, in unbeschwertem Ton, und ihre Stimme war klangvoll: akzentfreies Englisch, vielleicht mit einem ganz leichten italienischen Singsang. Sie sah aus, als fühlte sie sich hier wohl. Sie sah italienisch aus. Wohingegen ich mich schäbig und deplatziert fühlte.
Der Cappuccino kam und bot mir ein wenig Deckung.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was machen wir jetzt? Tauschen wir unsere Lebensgeschichten aus?«
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf meine. »Immer mit der Ruhe. Wir kriegen das schon hin.«
Seltsamerweise war die plötzliche, unerwartete Berührung wie ein Schock für mich. »Ich glaube, ich habe dir sowieso nichts mehr zu erzählen«, sagte ich. Zur Vorbereitung auf unser Treffen hatte ich ihr eine lange E-Mail aus meinem Hotelzimmer geschickt.
»Du hast mir von deiner Vergangenheit erzählt«, erwiderte sie. »Aber nicht von deiner Zukunft.«
»Die ist ein bisschen nebelhafter. Ich glaube, ich bin an eine Weggabelung gelangt.«
»Wegen Vaters Tod?«
Nicht Dad, sondern Vater. »Ich glaube, da hatte sich sowieso einiges angestaut. Ich brauche eine Veränderung.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?«
Sie sah mich mit ihrem ein wenig scharfen Blick an, und ihr Lächeln war noch leerer. »Und im Gegenzug für deine Biografie möchtest du jetzt meine hören?«
»Du bist meine Schwester. Ich bin den ganzen weiten Weg hierher gekommen, um dich zu treffen. Ja, ich will wissen, was aus dir geworden ist. Du verkaufst Stammbäume«, sagte ich. »Das ist so ziemlich alles, was ich über dich weiß.«
Sie lächelte. »Das und die Tatsache, dass ich zu einer spinnerten Sekte gehöre… Keine Sorge; ich weiß, wie die Leute über uns denken. Na schön.« In lebhaften, fast einstudiert wirkenden Sätzen skizzierte sie mir ihre Karriere, ihr Leben.
Sie schien eine Art Kundenbetreuerin zu sein. Ihr Aufgabengebiet umfasste Dienstleistungen und Produkte für Großkunden – keine Einzelpersonen, sondern Firmen und Universitäten, ja sogar Kirchen und Regierungen. Nachdem sie von meinem Vater hierher geschickt worden war, hatte sie eine so gute Ausbildung genossen, dass sie schließlich ihr Bakkalaureat erworben hatte. Sie war nicht auf die Universität gegangen, sondern beim Orden geblieben und hatte dort ihren Abschluss in Geschichte und Betriebswirtschaft gemacht. Dann war sie sozusagen ins Familienunternehmen eingestiegen.
Auch nach diesem aalglatten Geplapper nahm sie für mich keine deutlicheren Konturen an. Und als ich darüber nachdachte, was sie gesagt hatte, merkte ich, dass ich mir weder ihre Schule noch auch nur die sozialen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen war – nicht in einer Familie, so viel stand fest –, bildlich vorstellen konnte.
Sie begann, über das Geschäft des Ordens zu sprechen. »Ja, wir verkaufen genealogische Informationen. Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht…« Sie förderte einiges Werbematerial aus ihrer Handtasche zutage: gut produzierte Hochglanzbroschüren. Ahnenforschung sei einer der größten Wachstumsbereiche im Internet, erklärte sie mir. »Wir bieten sogar einen DNA-Vergleichsservice an«, sagte sie. »Angenommen, du hast britische Vorfahren, dann kannst du in Kürze feststellen, ob du von den alten einheimischen Volksgruppen abstammst oder mit den Römern, den Sachsen oder den Wikingern herübergekommen bist.
Es gibt dort draußen nur ein endliches genealogisches Universum. Die Anzahl der Menschen, die jemals gelebt haben, ist
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