Der Orden
halten konnte. Doch jetzt brachte sie irgendetwas – meine Beharrlichkeit, vielleicht mein Kummer – dazu, diesen Plan zu überdenken. Ich weiß, das ist eine kalte Analyse ihrer Überlegungen. Aber auch damals schon glaubte ich im Grunde nicht, dass die wie auch immer gearteten neuen Pläne, die sie sich zurechtlegte, etwas mit Mitgefühl zu tun hatten.
Sie machte eine abrupte Kehrtwendung. »Vielleicht hast du Recht. Es sollte nicht so enden. Wie gesagt, schließlich hast du meinetwegen diesen weiten Weg zurückgelegt und all diese Detektivarbeit geleistet.« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, und ich hatte den Eindruck, dass sie eine Entscheidung traf. »Ich mache dir einen Vorschlag. Vielleicht möchtest du sehen, wo ich arbeite und lebe. Was meinst du?« Sie ließ die Sonnenbrille geschäftsmäßig auf ihre Nase herab.
Ich sah, dass sie ihre eigenen, ganz bestimmten Ziele verfolgte. Ich wusste wirklich nicht, was sie von mir wollte. Aber es war eine Chance, ein wenig mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Was blieb mir anderes übrig, als den Vorschlag zu akzeptieren?
Also nahm sie mich mit in die Katakomben.
Der Eingang war nicht weit entfernt. An der Oberfläche war wenig zu sehen: eine winzige Kapelle, ein paar Souvenir- und Imbissstände, ein Kartenhäuschen, alle in einer kleinen, verlotterten Parklandschaft. Es war Mittagszeit, und die öffentlich zugänglichen Bereiche waren geschlossen, die Fenster des Kartenhäuschens mit chiuso-Schildern verhängt: Wir befanden uns schließlich in Rom. Aber ein paar verwirrt dreinschauende Touristen trieben sich noch bei den Imbissständen herum und kauften überteuerte Hot Dogs und Mineralwasser.
Sie sahen neidisch zu, wie Rosa mich zu einem kleinen Steinblock von der Größe und Form von Doctor Whos Tardis führte. Darin befand sich eine schwere grüne Tür, die sie mit einer Kennkarte öffnete. Dies sei der öffentliche Zugang zu den Katakomben Agrippinas, erklärte mir Rosa. Sie betätigte einen Schalter, und elektrisches Licht flutete von Neonröhren an der Decke herab.
Stufen führten in die Dunkelheit hinunter. Rosa ging voran. Ihre Schuhe mit den hohen Absätzen klapperten über den abgenutzten Stein. Als ich die Tür hinter mir zuzog, verriegelte sie sich automatisch. Sofort kam es mir kälter vor. Es war ein unheimliches Gefühl, trotz des elektrischen Lichts.
Am Fuß der Treppe stand ich in einem Stollen. Er war so schmal, dass ich beide Wände zugleich berühren konnte, wenn ich die Hände ausstreckte, und an die acht Meter hoch, mit gewölbter Decke. In die Wände hatte man tiefe, schachtelförmige Hohlräume gehauen. Das Licht der sparsam verteilten elektrischen Lampen war matt; die Lichtschächte, die von der Erdoberfläche herabführten, spendeten mehr Helligkeit.
Rosa betätigte sich als Führerin. »Die Leute sagen, sie hätten noch nie von einer heiligen Agrippina gehört. So weit wir wissen, gab es sie auch nicht. Wahrscheinlich war sie nur eine wohlhabende römische Matrone, die der Sache der Christen wohlwollend gegenüberstand und ihnen ihr Land zur Benutzung überließ.«
Die Bestattung der Toten hatte für die hiesige frühchristliche Gemeinde ein Problem dargestellt. Raum war in Rom immer ein kostbares Gut gewesen. Wegen ihres Glaubens führten die Christen nur ungern Einäscherungen durch, aber Land war teuer, sogar so weit außerhalb der Stadt. Also begannen sie zu graben.
»Das Gestein hier ist Kalktuff«, erklärte Rosa. »Weich, vulkanisch. Er ist leicht zu bearbeiten und wird hart, wenn er der Luft ausgesetzt ist. Und die Römer waren ohnehin daran gewöhnt, unter der Erde zu arbeiten. Sie haben Abwasserkanäle, Wasserwerke und unterirdische Gänge angelegt, in denen Diener von einer Seite einer großen Villa zur anderen kamen. Viele Häuser besaßen sogar einen cryptoporticus, eine halb unterirdische Wandelhalle. Als die Christen also eine Begräbnisstätte für ihre Verstorbenen brauchten, gruben sie eifrig…«
Wir stiegen eine weitere steile Treppe hinab und gelangten in einen neuen Stollen, der sich in der Ferne verlor. Die Gänge verzweigten sich einer nach dem anderen, und die Wände waren alle mit tiefen Nischen übersät.
Ich hatte schon jetzt jede Orientierung verloren. Wir waren allein, und ich hörte nichts als unsere Schritte und Rosas sanfte, leise widerhallende Stimme. Es war angenehm kühl. Um uns herum klafften die offenen Nischen wie schwarze Münder – und für mich gab es keinen Zweifel, was sie
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