Der Orden
begrenzt, und jeder von ihnen hatte eine Mutter und einen Vater, Bindeglieder zur großen Abstammungskette. Aus unserer Sicht gibt es im Prinzip keine Einschränkung, was die Informationen anbelangt, die wir irgendwann finden werden…« Sie erklärte mir das alles in ziemlich missionarischem Ton, und ich erkannte, dass es für sie mehr als nur ein Produkt war.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, als wollte sie mir etwas verkaufen. Ich wusste nicht, wie sich Geschwister nach vierzigjähriger Trennung verhalten sollten; so etwas kommt schließlich nicht jeden Tag vor. Aber DNA-Datenbanken und Hochgeschwindigkeits-Zugangsoptionen fürs Internet waren wohl kaum die angebrachten Gesprächsthemen.
Während sie redete, erinnerte sie mich tatsächlich an Gina. Etwas an ihrer kalten Kompetenz, ihrer Distanz zu mir.
Ich legte die Broschüren beiseite. »Du erzählt mir was über Genealogie«, sagte ich. »Und nicht über dich.«
Sie lehnte sich zurück. »Was willst du denn wissen?«
»Du bist nie nach Hause gekommen.«
Sie nickte. »Mein Zuhause ist hier, George. Für mich ist das meine Familie.«
»Mag sein, dass es dir so vorkommt, aber…«
»Nein.« Wieder legte sie ihre Hand schockierend beiläufig auf meine. »Du verstehst nicht. Der Orden ist die Familie – unsere Familie. Deshalb war Vater froh, dass er mich hierher schicken konnte.« Und sie rief mir die Geschichte von Regina in Erinnerung, die in der fernen Vergangenheit den Zusammenbruch Britanniens überlebt hatte und schließlich nach Rom gekommen war, wo sie den Orden mitbegründet hatte.
Mir hing diese Story zum Halse heraus. »Das ist nur eine Familiensage. Kein Mensch kann seine Spuren bis zu den Römern zurückverfolgen.«
»Wir schon.« Sie grinste beinahe spielerisch. »Wir führen Aufzeichnungen, George. Darin sind wir besser als in allem anderen. Unsere riesige historische Datenbank ist das Rückgrat, auf dem wir unser Genealogiegeschäft aufgebaut haben. Das mit Regina stimmt, George. Es gibt eine ununterbrochene Ahnenreihe von Reginas Zeit bis heute, weil der Orden überdauert hat. Diese zentrale Linie der Familie besteht fort. Und es ist unsere Familie.
Vielleicht verstehst du jetzt, weshalb ich hier geblieben bin.« Wieder berührte sie mich unerwartet. Sie schob eine Hand unter meine und ließ die andere darauf liegen, massierte die Hautfalte zwischen meinem Daumen und Zeigefinger mit ihrem Handballen. Es war außerordentlich intim – nicht sexuell –, unwiderstehlich und doch seltsam einengend. »Du brauchst mich also nicht zu retten.«
»Wie meinst du das?«
Sie lachte. »Komm schon, George. Ist das nicht der wahre Grund, weshalb du hier bist? Um mich aus meinem elenden Exil zu erlösen? Vielleicht hast du auf irgendeiner Ebene erwartet, das kleine Mädchen vorzufinden, das du vor all diesen Jahren zuletzt gesehen hast. Und nun bist du irgendwie enttäuscht, weil ich mich als erwachsene Frau erweise, die ihr eigenes Leben lebt und fähig ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich muss nicht gerettet werden, wie du siehst.«
»Okay«, sagte ich zornig. »Mag sein, dass ich ein herablassender, fantasieloser Trottel bin. Aber ich bin hier, Rosa.«
Zu meiner Überraschung stand sie auf. »Aber jeder von uns hat sein eigenes Leben, George. Tja, das wär’s.« Sie nahm Geld aus einer kleinen Brieftasche. »Ich lade dich ein«, sagte sie. »Ich bestehe darauf.«
Ich erhob mich unsicher. Mir wurde klar, dass ich dieses Gespräch vom Anfang bis zum Ende nicht unter Kontrolle gehabt hatte. »War’s das?«
»Wir müssen in Verbindung bleiben. Sind E-Mails nicht etwas Wunderbares? Wie lange bleibst du in Rom?«
»Herrgott noch mal, Rosa.« Ich rang einen Moment lang um Fassung. »Haben wir einander nicht mehr zu sagen? Nach all dieser Zeit?«
Sie zögerte. »Weißt du, einige waren der Meinung, ich sollte mich nicht mit dir treffen.«
»Einige wer?«
»Leute im Orden.«
»Du hast ihnen von mir erzählt?«
»Wir erzählen uns alles.«
»Warum hättest du mich nicht treffen sollen?«
»Weil du eine Bedrohung darstellen könntest«, sagte sie schlicht. Ihr Blick war unverwandt auf mich gerichtet. »Aber jetzt, wo ich dich kennen gelernt habe, glaube ich das eigentlich nicht.«
Ich hatte den Eindruck, dass sie eine Neubewertung der Situation vornahm.
Sie hatte sich genötigt gefühlt, in das Treffen mit mir einzuwilligen, um mir das Mindestmaß an Kontakt zu gewähren, das erforderlich war, damit sie mich wegschicken und fern
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