Der Orden
berühmte angelsächsische Tradition der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung hätte es nicht gegeben. Keine Magna Charta, keine Parlamente. Wenn die Römer nach Amerika gekommen wären, hätten sie keinen Völkermord an den Eingeborenen verübt, so wie wir. Das war nicht die römische Art. Sie hätten sie assimiliert und akkulturiert und dort ihre Aquädukte, Badehäuser und Straßen gebaut, den Apparat ihres Zivilisierungssystems. Die indigenen Völker in Nord- und Südamerika hätten als Bewohner neuer römischer Provinzen überlebt. Es wäre eine reichere, in mancher Hinsicht vielleicht fortschrittlichere Welt gewesen.«
»Aber keine Unabhängigkeitserklärung. Und auch keine Abschaffung der Sklaverei.«
Es hätte also Verluste gegeben. Aber der Niedergang Roms – all dieses Blutvergießen, der Wissensverlust – der Zusammenbruch der Ordnung: Nein, merkte ich, mir schien das nichts Gutes zu sein. Die Ordnung von Weltreichen sagte mir zu – selbst wenn beispielsweise die Sowjetunion nach jeder vernünftigen Definition ein solches Weltreich gewesen war. Aber darin kam lediglich meine innere Sehnsucht nach Ordnung und Regelmäßigkeit zum Ausdruck.
Wir saßen eine Weile da und lauschten dem Zirpen der Zikaden in den Bäumen, deren sich gelb verfärbendes Laub in dem versmogten orangefarbenen Licht schwarz wie Öl aussah. Einer der anderen Säufer beobachtete uns; er hob seine braune Papiertüte in einem ironischen Gruß, und wir prosteten ihm unsererseits zu.
»Also, meine Schwester«, sagte ich. »Was hältst du von der?«
Er zuckte die Achseln. »Klingt unmenschlich. Ich weiß nicht, wie man sich verhalten sollte, wenn der lange verloren geglaubte Bruder aus heiterem Himmel auftaucht, aber bestimmt nicht so.«
Ich nickte. »Womit haben wir es deiner Ansicht nach zu tun?«
»Mit einer Sekte. Einer gruseligen, randständigen katholischen Sekte. Ich glaube, deine Schwester ist indoktriniert worden. Kein Wunder, dass sie wie ein Roboter reagiert hat.«
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Wenn du daran denkst, sie zu deprogrammieren, vergiss es. Sie sagt, sie braucht nicht gerettet zu werden.«
»Na ja, was soll sie auch sonst sagen.« Mit sanfterer Stimme fuhr er fort: »Aber nach vierzig Jahren, und nachdem sie in so frühem Alter in deren Fänge geriet, ist wahrscheinlich sowieso nur noch sehr wenig von deiner Schwester übrig.« Er seufzte. »Dein Dad war ein guter Freund von mir. Aber er hatte einiges auf dem Kerbholz.«
»Was ist mit dem Orden?«
»Weißt du, Jesus selbst wollte nie eine Kirche gründen. So weit es ihn betraf, lebte er in der Endzeit. Er war gekommen, um das Reich Gottes zu verkünden. Die frühe Kirche bestand aus kleinen, verstreuten Grüppchen, sie war chaotisch und zersplittert; schließlich war sie eine unterdrückte Bewegung.«
»Und Frauen…«
»Als die Verfolgungen begannen, traf es die Frauen besonders hart. Märtyrerinnen wurden in die Prostitution gezwungen. Die Frauen brauchten ein Versteck, eine Chance, ihre Kräfte zu sammeln und durchzuhalten…«
»Also ist die Geschichte des Ordens plausibel.«
»Als das Christentum zur Reichsreligion wurde, führte die Kirche sofort ein strenges Regiment ein. Häresie durfte nicht toleriert werden: Zum ersten Mal haben Christen fröhlich andere Christen verfolgt. Und als die Päpste in den folgenden Jahrhunderten ihre Machtansprüche durchsetzten, wurde die Kirche zentralisiert, legalisiert, politisiert und militarisiert. Der Orden hätte keinen Platz im Weltbild der Päpste gehabt.«
»Dennoch hat er überlebt.«
Er rieb sich das Kinn. »Der Orden ist offenkundig sehr um Geheimhaltung bemüht, aber er ist schon sehr, sehr lange hier ansässig, eine Stunde zu Fuß vom Vatikan entfernt. Die Kirche weiß bestimmt über ihn Bescheid. Es muss irgendwelche Verbindungen geben.« Er lächelte. »Wie gesagt, ich wollte schon immer mal in den Geheimarchiven des Vatikans stöbern. Vielleicht ist das jetzt der richtige Moment.«
»Ich werde Claudio fragen müssen«, sagte ich skeptisch. Ich war nicht glücklich über seine Reaktion. Auf irgendeiner Ebene mochte er Recht haben. Was er jedoch nicht in Betracht gezogen hatte, waren die sozusagen weltlichen Aspekte der Krypta, die ich ihm zu erklären versucht hatte: die Gesichter, die Gerüche, dieser starke Sog, den ich verspürte, dort zu bleiben, dorthin zurückzukehren. Aber vielleicht hatte ich auch davor zurückgescheut, all dieses unheimliche biologische Zeug vor ihm
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