Der Orden
dir die Landschaft an. Du warst bestimmt noch nie so weit von zu Hause weg, stimmt’s?«
Sie wusste nicht, ob das stimmte. Sie ließ den Blick über Felder und Hecken schweifen. Hier und dort standen ein paar vereinzelte Gebäude, kleine, quadratische Hütten und ein paar Rundhäuser mit Holzbalken und Strohdach; in der Ferne sah sie die leuchtend roten Dachziegel von etwas Größerem, wahrscheinlich einer Villa.
Es war landwirtschaftlich genutztes Land, wie ein großer Teil der römischen Diözese Britannien. Niemand wusste genau, wie viele Menschen in Britannien südlich des Walls lebten, aber man schätzte, dass es mindestens vier Millionen waren. Nur etwa jeder Zehnte wohnte in Villen und Städten. Die anderen bearbeiteten das Land, bauten Weizen, Gerste, Hafer, Erbsen, Bohnen, Gemüse und Kräuter an und züchteten ihre Rinder, Schafe und Ziegen. Viele von ihnen taten das seit Generationen und hatten es auch schon lange vor der Ankunft der Römer getan: Die Landschaft, die Regina durchquerte, sah noch genau so aus wie vor fünfhundert Jahren.
So war es von einem Ende des Imperiums zum anderen, über zweitausend Meilen hinweg, von Britannien bis zum Nahen Osten. Das Römische Reich war die wirtschaftlich am höchsten entwickelte Zivilisation, die die westliche Welt jemals gesehen hatte – aber die überwältigende Mehrheit der Menschen lebte wie eh und je vom Land.
Aetius nahm sich viel Zeit, um Regina einiges davon zu erklären, blieb aber an der Bedeutung des Wortes »Million« hängen. Reginas Aufmerksamkeit erlahmte; das Schwanken der Pferde, das Klappern der Räder, das Summen der Fliegen lenkte sie ab.
»Herrje, hör auf herumzuzappeln«, blaffte Aetius. »Wenn ich dir doch nur befehlen könnte, still zu sitzen…« Er deutete mit seiner Peitsche auf einen kleinen, zylindrischen Pfeiler neben der Straße. »Na, was ist das? Weißt du das?«
Natürlich wusste sie es. Es war ein Wegstein. »Er sagt einem, wie weit es zur nächsten Stadt ist und wer der Kaiser ist.«
Er grunzte. »Irgendwie bezweifle ich, dass der arme Honorius dazu gekommen ist, seinen Namen auf die Steine zu malen… Aber ja, so ist es gedacht. Also, die Steine stehen so etwa alle tausend Schritte an jeder Hauptstraße. Und wenn du sie zählst, dann weißt du, wie weit wir schon gefahren sind, nicht wahr?«
»Ja!« Sie rieb sich die Nase. »Aber wenn ich einschlafe? Oder wenn es dunkel ist?«
»Wenn du einschläfst, zähle ich für dich. Und hör auf, dir die Nase zu reiben. Du musst jetzt anfangen. Das da ist Nummer eins …«
»Eins.« Feierlich krümmte sie einen Finger als Merkzeichen und hielt Ausschau nach dem nächsten Pfeiler. Aber es dauerte schrecklich lange, und als sie ihn sah, hatte sie vergessen, was sie machen sollte, und den Finger schon wieder ausgeklappt.
Ihr Großvater schien ihr unbedingt weiter Unterricht erteilen zu wollen, und während sie dahinratterten, erzählte er ihr die Geschichte der Straße. Kaiser Claudius’ Soldaten waren als Erste hier entlanggekommen und hatten den Verlauf der Trasse ausgemessen. Gebaut worden war die Straße dann von den Soldaten und dazu herangezogenen Landbewohnern.
»Wie viel hat man ihnen dafür bezahlt?«
»Bezahlt? Ha! In jenen Tagen gab es hier nur Barbaren, mein Kind. Da bekam man nichts bezahlt. Also, man schüttet ein Kiesbett auf und deckt es mit Kalksteinschotter. Wo man Steinplatten findet, nimmt man die. Das Wasser läuft in die Seitengräben dort ab – siehst du…?«
Regina beherrschte die Kunst, die aufmerksame Zuhörerin zu spielen, während sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. Aber schließlich driftete sie in den Schlaf, sank an Aetius’ kräftigen Körper und träumte unruhig von dem kleinen Mädchen mit den genagelten Stiefeln.
Während der Tag verging, döste sie, lauschte Aetius’ komplizierten Erklärungen oder spielte Wortspiele mit Cartumandua. Sie machten nur Halt, um die Pferde zu tränken und zu füttern; die Passagiere aßen unterwegs in der Kutsche Brot mit Fisch und Fleisch.
Als Regina zum letzten Mal an diesem Tag aufwachte, fuhr der Pferdewagen gerade in einen Hof. Aetius und die anderen sprangen ab und entluden ihn, während Regina sich von ihrem Platz erhob, sich streckte, ihren schmerzenden Körper massierte und sich umschaute. Das Licht schwand vom Himmel, und hoch oben hatten sich dünne Wolken gesammelt. Zu ihrer Rechten sah sie eine hohe, eindrucksvolle Mauer, einen gewaltigen, schiefergrauen Vorhang, der sie
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