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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Junge grinste. »Klar. Komm, ich zeig’s dir.«
    Gina sagte: »Setzt euch nicht auf den feuchten Boden. Und bleibt nicht zu lange draußen, wenn sie den Start verschieben, sonst erkältet ihr euch…«
    »Tun wir nicht«, sagte ich. »Na komm, mein Junge.« Ich stand auf, nahm Michael an der Hand und ließ mich von ihm durch die dunkle Diele zur Hintertür führen. Hinter dem Haus war eine lange, überdachte Veranda. Zwei große Hängeschaukeln hingen vom Dach, und große elektrische Lampen an der Holzwand vertrieben die Nacht; jenseits des Lichtkreises war nur Dunkelheit.
    »Wollen wir uns hier hinsetzen?«
    »Ist ziemlich hart unterm Hintern«, sagte Michael. »Mom bringt die Kissen rein, damit sie trocken bleiben.«
    »Ach so, okay.«
    »Von da hat man sowieso nicht den besten Blick. Komm.« Ohne meine Hand loszulassen, ging der Junge einen für mich nahezu unsichtbaren Kiesweg entlang, der zur Küste hinunterführte. Seine Schritte waren souverän; er fühlte sich sicher in seinem kleinen Reich. Ich bemühte mich, ihm ohne Zögern zu folgen.
    Während das Haus – eine kleine Lichtinsel – allmählich hinter uns zurückblieb, tat sich die Nacht um uns auf. Der Himmel war schwarz und riesig und von Sternen gesprenkelt. Hinter mir, landeinwärts, färbten die Lichter der Stadt die vereinzelten Wolken orangegelb. Doch als ich nach Osten schaute, zum Meer, war dort nur Dunkelheit. Ich konnte den Ozean jetzt hören, ein leises, rastloses Grollen.
    Michael führte mich ein Stück vom Weg herunter. Ich merkte, dass ich auf feinem Sand ging, der in meine Schuhe rieselte, sodass sie beim Gehen knirschten. Nach ein paar Schritten ließ er sich zu Boden plumpsen. Ich ließ mich etwas behutsamer nieder und merkte, dass ich auf weichem Sand mit groben Grasbüscheln saß. Das Gras pikste und war ein bisschen feucht vom Tau, und ich wusste, dass ich bald einen steifen Rücken kriegen würde. Aber für den Augenblick war es durchaus bequem.
    »Meine Mom will nicht, dass ich so spät abends noch näher ans Wasser gehe«, sagte Michael ernsthaft. Ein leises Geräusch verriet mir, dass er Gras ausriss.
    »Das ist sehr vernünftig.« Ich erspähte ein Licht, weit draußen auf dem Meer. Ich zeigte es Michael. »Ich möchte wissen, ob das was mit dem Start zu tun hat. Sammeln sie die Feststoff-Booster, die abfallen, wenn das Shuttle fliegt, nicht mit Schiffen ein?«
    Michael kicherte. »Glaub nicht. Die Bergungsschiffe sind sehr weit weg.«
    »Ach so, klar.«
    Michael fing an, mir in lebhaftem Ton von Shuttle-Startoperationen zu erzählen und beschrieb die Montage der Starttriebwerke und den Lift-Off von der Startrampe in Cap Canaveral mit seinen kleinen Händen. Er plapperte Fachausdrücke und Abkürzungen nach, aber als ich ihn vorsichtig testete, indem ich ihn fragte, was die Abkürzungen bedeuteten, wusste er immer eine Antwort.
    Es passte sehr gut zu seiner Arbeit an den Frisbees. Dabei war es noch gar nicht so lange her – herrje, nur ein paar Jahre –, dass wir uns den Apollo 13-Spielfilm im Fernsehen angesehen und zusammen den Countdown heruntergebetet hatten, weil das, so Michael, der Zauber war, den man brauchte, damit das Raumschiff flog. Später hatten wir einander mit unseren Gesprächen geholfen, den schrecklichen Verlust der Columbia zu verarbeiten. Jetzt war seine Begeisterung noch immer liebenswert, aber sein profundes Wissen war verblüffend. Für ihn war die Raumfähre keine Zauberkutsche mehr, sondern ein Stück Technik, das man studieren, auseinander nehmen und verstehen konnte – und vielleicht sogar eines Tages verbessern.
    Ich unterdrückte ein Seufzen. Immerhin war er erst zehn Jahre alt. Die Kindheit ist so lang, wenn man sie erlebt, aber so kurz, wenn man sie von außen betrachtet. Und meine Besuche, die kurzen Streifzüge über den Atlantik zu Weihnachten und im Sommer, die mir so kostbar waren, summierten sich auf gerade mal ein paar Tage, die sich über diese vergängliche Dekade verteilten.
    Auf einmal setzte sich Michael kerzengerade hin. »Schau! Schau, da ist sie!«
    Und sie war es, ganz pünktlich. Ich schaute nach Norden und sah einen Lichtfunken, hell wie eine Supernova, der aus dem Meer in die Höhe zu steigen schien. Seine Flugbahn krümmte sich bereits, ein anmutiger Bogen, und ich beobachtete, wie der Funke eine riesige Rauchsäule in die dichte Seeluft schnitt, eine Säule, die selbst von innen hell erleuchtet wurde. All dies fand in völliger Stille statt, aber der Eindruck von Kraft war

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