Der Orden
Stück machten sie es sich bequem. Doch Regina musste jeden Tag etwas Neues herausfinden: Überleben war eine erstaunlich komplizierte Angelegenheit. Und das Leben war gnadenlos hart, jede Stunde vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit war mit anstrengender körperlicher Arbeit angefüllt. Der Winterfrost kam, und das Leben wurde noch härter.
Trotz alledem – und obwohl das neue Leben in ihrem Bauch unablässig wuchs – merkte Regina, wie sie stärker wurde. Die Haut ihrer Hände, ihrer Füße und ihres Gesichts wurde fester, ihre Bein- und Schultermuskeln wurden kräftiger. Sie aß wie ein Scheunendrescher, um ihr ungeborenes Kind zu füttern und die Kälte zu vertreiben. Aber sie wurde nicht krank. Carausias litt jedoch sehr; seine Gelenke und sein Rücken – ohnehin schon ein wenig anfällig – erholten sich nicht mehr von dem langen Marsch von Verulamium hierher, und obwohl er mutig versuchte, weiterhin seinen Teil der Arbeit zu erledigen, war seine Schwäche nicht zu übersehen.
Zu Reginas Entsetzen war es jedoch Cartumandua, die von ihnen allen am schlimmsten erkrankte.
Es fing mit Bauchschmerzen an. Sie hörten nicht mehr auf, ganz gleich, was sie aß, selbst wenn sie überhaupt nichts zu sich nahm. Als Regina Cartas Bauch berührte, ertastete sie einen harten Klumpen unter ihrem Brustkorb, fast wie ein weiteres, bösartiges Kind.
Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was Carta fehlte. Natürlich gab es auch keinen Arzt, den man um Rat hätte fragen können. Regina versuchte sogar, Arznei von dem bärtigen Farmer zu erbetteln. Exsuperius gab ihr nichts als den Rat, Carta solle Weidenrinde kauen. Carta versuchte es und stellte fest, dass der immer stärker werdende Schmerz nachließ, wenn auch nur für kurze Zeit. Aber sie wurde Tag für Tag ein wenig schwächer und blasser, und Regina verspürte eine wachsende Furcht.
Als die Tage am kürzesten waren, gefror ein großer Teil des Sumpflands. Da sie trotzdem nach wie vor täglich Wasser holen mussten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als weitere Strecken zurückzulegen, um eine Stelle zu finden, wo der Boden nicht gefroren oder das Eis so dünn war, dass sie es durchbrechen konnten. Das Wasserholen wurde zum beherrschenden Element ihres Lebens, dem Ersten, woran Regina jeden Morgen beim Aufwachen dachte.
An einem besonders trüben, grauen Wintermorgen unternahm sie mit Marina den ersten Gang hinunter zum Sumpfland. Dort hatten sie eine Senkgrube angelegt. Regina hockte sich über das Loch im Boden, hob ihr Kleid und entblößte in der brutalen Kälte ihren Hintern.
Plötzlich stellte sie sich vor, was ihr jüngeres Ich wohl gedacht hätte, wenn es sie über dieser schlammigen Grube hocken gesehen hätte. In der Villa ihrer Mutter war eine Latrine nahe bei der Küche gewesen, sodass man sie mit Wasser aus der Küche hatte spülen können. Dort hatte man sich mit Schwämmen an Stöcken und Fläschchen mit Duftwasser reinigen können, und der kleine Raum war immer von Küchengerüchen erfüllt gewesen. Und nun das. Schritt für Schritt war sie so weit gekommen – und dabei war es immer nur abwärts gegangen –, und sie war so damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben, dass sie vergessen hatte, wie weit sie schon von ihrem Zuhause entfernt war.
Aber man musste sich nun mal erleichtern. Sie hockte da, presste ordentlich, beendete ihr Geschäft, so rasch sie konnte, und säuberte sich mit einer Hand voll Gras.
Es war ein nebliger Tag, aber nicht ganz so bitter kalt wie zuvor; vielleicht war das Sumpfland in der Mitte aufgetaut. Also ging sie vorsichtig zum ungefähren Uferbereich und bahnte sich einen Weg über gefrorenen Schlamm und vereiste Wasserpfützen. Sie kam zu einem Flecken offenen, schlammigen Wassers, wo welke Schilfrohre, braun und dünn, wie Haare trieben. Sie bückte sich und fasste ins eiskalte Wasser, um das Schilf beiseite zu ziehen. Auf einmal spürte sie einen stechenden Schmerz.
Sie zog den Arm zurück. In ihrer Handfläche klaffte ein Schnitt, und hellrotes Blut, die leuchtendste Farbe in einer Landschaft aus Grau und Graubraun, lief ihr über den Arm und vermischte sich mit dem Wasser auf ihrer Haut.
Marina kam aufgeregt zu ihr. »Was ist los?«
»Ich glaube, ich bin gebissen worden. Vielleicht ein Hecht.«
Marina untersuchte ihre Hand. »Für mich sieht das nicht wie ein Biss aus. Du musst das abwaschen.«
»Ja.« Regina bückte sich und spähte ins Wasser. Unter der Schilfrohrschicht war kein Fisch zu
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