Der Orden
Dafür war es viel zu delikat. Aber ich hab’s rausbekommen. Bei dem ging es wirklich husch-husch. Er hat die Weiber einfach flachgelegt, gleich auf dem Boden seines Büros. Hat nicht mal seine Schuhe oder seine Hose ausgezogen. Und wenn er fertig war, hat er sie rausgeschickt und sich wieder an die Arbeit gemacht.«
»Wirklich charmant.«
»Aber er war Mussolini. Ich kannte allerdings ’ne Menge Jungs in der Army, die ähnliche Angewohnheiten hatten…«
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich versuchte, all das Gehörte zusammenzusetzen, versuchte mir auszurechnen, wie alt diese Maria Ludovica damals war. Angenommen, sie war bei dem Marsch von 1922 um die zwanzig gewesen. Dann musste sie in den Dreißigern gewesen sein, als sie eine »fruchtbare Frau« geworden war, und in den Vierzigern während des Krieges. War es wirklich glaubhaft, dass Mussolinis Wahl auf eine vierzigjährige Mutter so vieler Kinder gefallen war, wo ihm doch vermutlich ganz Italien außerhalb der Klöster zur Verfügung gestanden hätte? Und konnte eine solche Frau wirklich die Sexgöttin gewesen sein, die der junge, unerfahrene Sergeant Casella 1944 erblickt hatte? Verschmolzen in Lous Gedächtnis vielleicht die Erinnerungen an mehr als eine Frau? Aber seine Geschichten waren voller Details und wirkten präzise.
»Mussolini wollte übrigens eine riesige Herkulesstatue errichten, so groß wie eine Saturn-V-Rakete, mit Mussolinis Gesicht, die rechte Hand zum Faschistengruß erhoben. Aber sie haben nur den Kopf und einen Fuß fertig gekriegt.« Er lachte. »Credere! Ubbedire! Combattere! Was für ein Arschloch. Aber trotzdem, wenn er einen anmachte, gab man ihm keinen Korb. Ich bin ziemlich sicher, dass Maria Ludovica dem Orden in jenen Jahren eine Menge Schutz verschaffte, indem sie sich vom Duce vögeln ließ.«
»In welcher Verbindung stand Maria zu dem Orden? Hat sie ihn gegründet?«
»Aber nein. Hast du denn überhaupt keine Ahnung von der Familiengeschichte, mein Junge?«
Ich runzelte die Stirn. »Du meinst die Geschichte des römischen Mädchens?«
»Römisch-britisch, ja. Regina.«
»Das ist eine Sage. Es muss eine sein. Die Dokumente reichen nicht so weit zurück.«
Er lutschte an seinem Eis. »Wenn du es sagst. Jedenfalls war der Orden mit Sicherheit erheblich älter als Maria Ludovica.«
»Und als du die Casellas fandest, hast du dich an Maria gewandt.«
»Sie – der Orden – wusste über die Casellas Bescheid. Der Sitz des Ordens war ja nicht weit entfernt. Aber sie hatten nichts von der Krankheit gewusst. Als ich mich mit ihnen in Verbindung setzte, kamen sie – Maria und drei andere Frauen. Offenbar medizinisch ausgebildet. Sie trugen schlichte weiße Kittel. Ich weiß noch, dass ich einen der Jungs in den Armen hielt, während sie sich mit ihren Stethoskopen und so weiter um ihm drängten. Sie waren alle drei ungefähr im selben Alter. Und sie sahen alle ähnlich aus, wie Maria, wie Schwestern. Und die Familienaugen, rauchgrau. War schon ein komisches Gefühl, von einem Gesicht zum anderen zu schauen. Sie verschmolzen irgendwie miteinander, bis man nicht mehr genau wusste, wer wer war.«
»Und sie haben den Kindern geholfen?«
»Sie hatten nur begrenzte Mittel zur Verfügung, wie alle anderen auch. Einen Jungen haben sie behandelt. Er hat sich erholt. Der andere ist gestorben. Das kleine Mädchen haben sie mitgenommen.«
»Was?«
Er drehte sich zu mir. »Sie haben es mitgenommen. In den Orden.«
»Aber sie haben es später zu seinen Eltern zurückgebracht?«
»Nein.« Das schien ihn zu verwirren. »Sie haben es aufgenommen, und das war’s.«
»Und die Eltern hatten nichts dagegen? Da kommen irgendwelche Leute, die sie vorher noch nie gesehen haben – Verwandte hin oder her –, und nehmen einfach ihr Kind mit…«
»He.« Er legte mir eine breite, schwere Hand auf den Arm. »Du wirst laut… du denkst an deine Schwester.«
»Da scheint es eine offensichtliche Parallele zu geben. Gina hat gesagt, diesen Handel hättest du ebenfalls vermittelt.«
»So würde ich das nicht ausdrücken. Deine Schwester war nicht krank. Aber sie war in Not – wie eure ganze Familie. Deine Eltern konnten sich euch beide einfach nicht leisten. Sie hatten Fühler in die Familie ausgestreckt, weil sie Hilfe brauchten.« Ich konnte mir vorstellen, wie mein Vater sich dabei gefühlt haben musste. »Ich erfuhr auf Umwegen davon. Und ich dachte an den Orden.«
»Was sind das für Eltern, die ihr Kind einem Haufen Fremder
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