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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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sich ab; ihre rauchgrauen Augen tanzten. Bran war etwas jünger als Brica und kam von einem Gehöft ein paar Hügel weiter. Er war der Enkel des alten Exsuperius, ihres ersten, mürrischen, missgünstigen Nachbarn, der schon lange tot war. Brica sagte: »Weißt du, Mutter, er ist gar nicht so übel.«
    »Gar nicht so übel hinter einem Pflug, nein, aber er kann nicht besser lesen als du mit fünf Jahren. Und was sein Latein betrifft…«
    Brica seufzte. »Ach, Mutter, niemand liest. Wozu denn auch? Eine Papyrusrolle pflügt kein Feld und kümmert sich auch nicht um die Geburt eines Kalbes.«
    »Jetzt vielleicht nicht. Aber wenn sich alles…«
    »… wieder normalisiert, ja, ja. Weißt du, es gibt Mädchen, die sind fünf Jahre jünger als ich und haben Mann und Kinder.«
    »Du bist nicht wie diese Mädchen«, fauchte Regina.
    »Du denkst, dass Bran nicht gut genug für mich ist.«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    Brica ließ ihre Hand in die ihrer Mutter gleiten. »Er lernt überhaupt nur aus einem einzigen Grund lesen, und zwar dir zuliebe.«
    Regina war überrascht. »Tatsächlich?«
    »Zeigt das nicht, wie viel er sich aus mir macht – und sogar aus dir?«
    »Vielleicht.« Regina schüttelte den Kopf. »Du musst wohl deine eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe viele törichte Entscheidungen getroffen – aber hätte ich das nicht getan, hätte ich dich nicht. Ich möchte nur, dass du auch wirklich weißt, was du willst. Und bis dahin: Sei vorsichtig.«
    Brica schnaubte. »Ich gehe jeden Monat zu Marina, Mutter.«
    Regina wusste, dass Brica von den Kräutertees sprach, die Marina als Empfängnisverhütungsmittel zubereitete. Marina war im Lauf der Jahre zu einer Art Expertin für Arzneien geworden, die man im Wald und auf den Feldern sammeln konnte; in Ermangelung eines Arztes war solches Wissen das Beste, was es gab.
    »Du weißt ja, was ich von solchen Tränken halte«, blaffte Regina. »Wenn Bran sich wirklich etwas aus dir machte, würde er ein Kondom benutzen. Kein Tee ist so wirksam wie eine Schweinsblase.«
    Brica errötete, unterdrückte jedoch ein Lachen. »Mutter, bitte!«
    »Und noch etwas…«
    Zankend, lachend und schwatzend gingen sie den zerklüfteten Kamm entlang.
     
    Mittlerweile lebten über zwanzig Personen auf dem Hof, eine Gemeinschaft, die der Saat jener überstürzten Flucht aus Verulamium entsprossen war. Um den alten Kern – Regina und ihre Tochter, Marina und Carausias – hatten sich weitere Menschen versammelt: Flüchtlinge aus einer alten Stadt im Süden, der Zweitälteste Sohn eines überfüllten Gehöfts im Westen samt seiner Familie.
    Zu Anfang fühlte Regina sich in dieser trostlosen Ruine auf der grünen, gewölbten Flanke des Hügels völlig verloren. Am schlimmsten war das Gefühl der Isolation. Die reicheren Teile des Landes waren bewohnt und wurden bebaut wie immer, aber verstreute Gehöfte wie dieses auf weniger ertragreichem Boden, der nur bebaut worden war, als man römische Steuern hatte entrichten müssen, standen nun leer. Sie hatten nur vereinzelte Nachbarn – nachts sah man wenige Lichter auf den Hügeln. Die Waldkrone auf der Hügelkuppe wurde für Regina zu einer Quelle beinahe abergläubischer Furcht; in dem dichten, grün-schwarzen Gewirr lauerten Wildschweine, Wölfe und sogar ein Bär, eine schlurfende, massige Gestalt, die sie einmal kurz erblickt hatte. Sie argwöhnte, dass der Wald sich im Lauf der Jahre schleichend den Hang hinab ausbreiten und dass die wilden Tiere aller Art zahlreicher werden könnten, als wollte die Natur das einstmals von ihr beherrschte Land zurückerobern.
    Die unaufhörliche Arbeit war für sie alle hart gewesen. Regina schätzte sich glücklich, dass ihr die chronischen Rückenprobleme, unter denen viele hier litten, ebenso erspart geblieben waren wie Würmer und andere Parasiten. Aber es brach ihr schier das Herz, dass ein Drittel aller hier geborenen Kinder schon vor dem ersten Geburtstag starben.
    Trotzdem, sie und die anderen hatten durchgehalten. Sie ließen sich nicht von hier vertreiben – schließlich konnten sie nirgends anders hin. Und allmählich hatten sie es geschafft, ihre Situation zu verbessern.
    Als ihre Zahl langsam wuchs, fassten sie sich nach einiger Zeit ein Herz und bauten ein weiteres Rundhaus – aber dessen Dach wurde beim ersten Wintersturm weggerissen. Wie sich herausstellte, gab es einen Trick, was den Winkel des Strohdachs betraf; eine Neigung von genau 45 Grad ließ den Regen ablaufen und

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