Der Orden
Zentimeter mit den Fingerspitzen absuchen. Doch in einer Zeit, in der sogar ein Schuhnagel wertvoll war, lohnte sich diese Mühe. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ein kleines Parfümfläschchen entdeckt. Als sie es ins Licht gehoben hatte, war sie überrascht gewesen von seiner Symmetrie und Vollkommenheit – verglichen mit den primitiven Schüsseln und Holzgefäßen, die sie daheim verwendete –, so als wäre es von einem besseren Ort in diese Welt eingedrungen. Sie bewahrte das Fläschchen in der kleinen Nische auf, die sie für die matres gebaut hatte, und hin und wieder nahm sie es heraus und hielt es ins Licht.
Durch die Fensterlöcher in den Mauern sah sie Brica. Sie hockte vor einem Schutthaufen in der Ecke eines Raumes, der einmal eine Küche gewesen sein mochte, und untersuchte ihn sorgfältig. Es war eine beunruhigende Komposition unterschiedlicher Bildelemente, ihre Tochter in ihrem schmutzigen Hemdkleid, unter einer Mauer wühlend, die immer noch die Markierungen von Borden und sogar Reste von Freskomalereien in Form eines Blumenmusters aufwies. Sie wusste, dass Brica sich an Orten wie diesen Ruinen unwohl fühlte, gerade so als glaubte sie dem Kindergeschwätz, dass es von Geistern heimgesuchte Relikte wären, erbaut von Riesen der Vergangenheit. Manchmal fragte sich Regina besorgt, was passieren würde, wenn diese unerfreuliche Situation so lange bestehen bliebe, dass die Letzten, die sich noch entsannen, ausstarben und nichts als Ruinen, Erinnerungen aus zweiter Hand und Sagen überdauerten.
Sie dachte an Bran. Er war ein bisschen unbedarft, aber eigentlich kein übler junger Bursche. Und Brica hatte ja nicht gerade eine sonderlich große Auswahl.
Sie hatten hier keinerlei Verwaltungsstruktur; im näheren Umkreis gab es keine Stadt und auch keine Villa, die noch in Betrieb war. Aber Regina und ihre Leute hatten sich mit der Zeit einer losen Gemeinschaft benachbarter Höfe angeschlossen. Die Menschen waren ziemlich argwöhnisch – manche Bewohner dieser Hügellandschaft waren hier schon sehr lange ansässig und betrachteten Neuankömmlinge mit Misstrauen –, aber sie halfen einander bei der Ernte und in medizinischen Notfällen. Und sie trieben Handel, Gemüse gegen Fleisch, eine Holzschale gegen eine Decke aus gewebter Wolle. Ohne diese Kontakte, sinnierte Regina, hätte wahrscheinlich keiner von ihnen überlebt.
Aber die Bevölkerungsdichte war gering. Das Land hatte sich geleert, als die Menschen, von Armorica träumend, nach Süden geflohen waren und sogar Höfe auf dem besten Land verlassen hatten, fortgetrieben von Gerüchten über das Vordringen der sächsischen Räuber im Osten und der Pikten und Iren im Westen und Norden. Und in diesem leeren Land der Geisterstädte und verlassenen Höfe herrschte ein Mangel an passenden Gefährten für Brica, so viel stand fest.
Reginas Widerstand gegen Bran war also nicht besonders sinnvoll. Aber sie war trotzdem gegen ihn. Anscheinend gab es in ihrem Innern einen tief sitzenden Instinkt, was das Schicksal ihrer Tochter betraf. Doch wenn sie eingehender darüber nachdachte, schienen ihre Gedanken wegzuschlittern wie ein Kieselstein über einen gefrorenen Teich. Zweifellos würde sie irgendwann den Grund dafür herausfinden.
Geistesabwesend durchkämmte Regina den Schutt. Sie legte ein scharlachrotes Stück Boden frei, einen Farbfleck, der von tesserae gebildet wurde. Es war ein Teil eines Mosaiks.
In plötzlichem Eifer schob sie den Schmutz mit dem Unterarm beiseite und legte ein größeres Stück des Mosaiks frei. Es zeigte das Gesicht eines bärtigen Mannes mit großen Augen. Farben – Gold, Gelb, Orange, Rot – umgaben den Kopf wie Sonnenstrahlen. Es hätte Apollo sein können, oder vielleicht auch ein christliches Symbol. Obwohl einige der Blattgoldsteinchen von hoffnungsvollen Räubern herausgebrochen worden waren, leuchteten die meisten Farben noch wie an dem Tag, als man die Mosaiksteine eingesetzt hatte. Mit besessenen Bewegungen säuberte Regina eine größere Bodenfläche. Es erschien ihr falsch, dass solche Schönheit unter welkem Laub und kriechenden Würmern vergeudet sein sollte, als wäre der junge Mann auf dem Bild lebendig begraben worden. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass es im Gehöft, so stolz sie darauf war, nur tristes Graugrün und Braun gab, als wäre alles aus Lehm geformt. Wie sehr sie Farben vermisste! Sie hatte vergessen, wie licht und bunt die Welt früher gewesen war. Sie fühlte sich in eine andere Zeit
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