Der Osmanische Staat 1300-1922
führte wegen der damit
verbundenen Anarchie und Finanzknappheit zu einer weiteren Stärkung lokaler
Notabeln (ayän) und Kriegsherrn. Die Rekrutierungsprobleme waren enorm,
auch wenn am Ende bis zu 100 000 Mann (Janitscharen und levend) bereitstanden. 1770 wurde die türkische Flotte in der Bucht von (~e~me (bei der
Halbinsel Urla vor Izmir) durch eine von englischen Admiralen befehligte
russische Seemacht geschlagen. Die Flotte war zur Unterstützung der aufständischen Mainoten in Griechenland entsandt worden. 1772 wurde die Krim durch das siegreiche Rußland vom Osmanen-Staat abgetrennt. Im Frieden von
Küiük Kaynarca (bei Silistra an der Donau) 1774 sicherte sich Katharina die
Große zahlreiche Territorialgewinne (zwischen Dn)epr und Bug, die Orte Kerc
und Yenikale auf der Krim und die beiden Kabardeien einschließlich Ossetiens).
Im Schwarzen Meer durften sich jetzt alle russischen Schiffe frei bewegen,
Handelsschiffe erhielten das Durchfahrtsrecht durch Bosporus und Dardanellen. Die endgültige Annexion der Krim mit ihrer überwiegend tatarischen
Bevölkerung erfolgte 1783.
Kütük Kaynarca
Kalifatsfrage
In dem Vertrag von Kü~ük Kaynarca tauchte zum ersten Mal eine Art spirituelles Protektorat des „Supremo Califfo Maomettano" über Muslime auf
ehemaligen osmanischen Territorien auf. Das herkömmliche islamische
Staatsrecht kennt eine solche Funktion nicht, doch heilte diese Bezeichnung
Amputationschmerzen bei zukünftigen Gebietsabtretungen. Die Analogie zum
Anspruch der europäischen Mächte, als Schutzmacht der Christen im Orient
aufzutreten, ist nicht zu übersehen.
Sistova und Jassy
4. ZWISCHEN ALT UND NEU: SELIM IIL (1789-1808)
Das späte 18. Jahrhundert sah erneut Österreich an der Seite Rußlands im Krieg
gegen die Türkei (1787-1791). Im Sonderfrieden von Svistov/Sistova (1791), der
durch Vermittlung Preußens, Englands und Hollands zustande kam, behielten die
Osmanen die Gebiete der Walachei und der Moldau, die von Österreich besetzt
worden waren. Mit Ausnahme von Alt-Orsova (am Eisernen Tor) wurde im
großen und ganzen die Grenzziehung zwischen dem Kaiser und dem Sultan von
1739 (Frieden von Belgrad) bestätigt. Im Frieden von Jassy (1792) wurde die
Annexion der Krim durch Rußland besiegelt und der Landstreifen zwischen
Bug und Dnjestr abgetreten. Osmanische diplomatische Bemühungen wie Gesandtschaften nach Buchara (1786, 1787) oder der Bündnisvertrag mit Preußen
(1790) hatten diese Ergebnisse nicht verändern können.
Botschaften in den
europäischen
Hauptstädten
In den sechs Jahren zwischen 1792 und 1798 schwiegen die Waffen zwischen den
Osmanen und allen europäischen Mächten. In diesem letzten Jahrzehnt des
18. Jahrhunderts wurden ständige Gesandtschaften in London, Paris, Berlin und
Wien eingerichtet. Auch wenn die Posten nach den ersten Botschaftern zunächst
nicht kontinuierlich besetzt wurden, hatten sich die Osmanen endgültig von der
Tradition der Sondergesandtschaften verabschiedet. 1794 wurden auch die Subventionen für die Botschaften der europäischen Staaten in Istanbul abgeschafft.
Selim I11.und
Frankreich
Der Thronantritt Selim III. (1789-1808) fand im Jahr des Sturms auf die Bastille
statt. 1793 pflanzten Mitglieder der französischen Kolonie in Istanbul einen
Revolutionsbaum. Selim III., der als Prinz mit Ludwig XVI. korrespondiert
hatte, ließ 1795 die Entsendung eines Botschafters der Republik nach Istanbul
zu und ging 1796 eine geheime Allianz mit Frankreich ein. Nach dem Eintreffen Bonapartes in Ägypten (1.7. 1798) zerstörte Nelson die französische Flotte vor
Abügir (ca. 15 Meilen östlich von Alexandria). Die Türkei ging daraufhin zum
ersten Mal ein Bündnis mit Rußland ein und erklärte Frankreich den Krieg. Ein
kurzlebiger Ausdruck dieser Allianz war die gemeinsame Schutzherrschaft des
Osmanischen Staates und Rußlands über die Septinsulare Republik" (Ionische
Inseln und Kythera) im Jahr 1800. Die französische Besetzung Ägyptens endete
nach der Ausschiffung der englischen Armee im Sommer 1801.
Die „Talfürsten"
Unter Selim III. erreichten die zentrifugalen Tendenzen in den Provinzen einen
Höhepunkt: Das Wort „Talfürst" (derebeyi) hat sich als Bezeichnung für die in den
Archivquellen „Provinznotabeln" (ayän-i viläyet) genannten, quasi autonomen
Statthalter und örtlichen Größen eingebürgert. Man schätzt, daß es im
18. Jahrhundert in Mittel- und Ostanatolien Hunderte von
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