Der Osmanische Staat 1300-1922
Durch ihn wird erst die Unterscheidung zwischen Machträgern in der Zentrale
und in den Provinzen ermöglicht.
Die Vorstellung von einem klassischen Zeitalter teilt die ältere Osmanistik [225:
HAMMER] mit modernen Vertretern wie INALCIK [256] oder MATUZ [237]. ST. J.
SHAW [236] hat den ersten Band seiner „History of the Ottoman Empire and
Modern Turkey" sogar mit dem Untertitel „Empire of the Gazis: The Rise and
Decline of the Ottoman Empire, 1280-1808" versehen (vgl. EDWARD GIBBON,
„The Decline and Fall of the Roman Empire", London 1776-1788). Das Niedergangsparadigma ist in der osmanistischen Literatur eng mit Periodisierungsfragen verknüpft. Die zeitgenössischen Beobachter haben im Übergang
vom „Dienstleben" (timar) zum Steuerpacht (iltizäm)-System im späten
16. Jahrhundert die Hauptbruchstelle zwischen einer erfolgreich-meritokratischen und einer glücklos-korrupten Epoche gesehen [267: LEwis]. Für die
moderne Forschung ist eine Überprüfung der idealisierenden Beschreibungen der
„Fürstenspiegel" (nasihat-näme) problematisch, weil zu wenige für einen Vergleich geeignete Daten vorliegen (z. B. über das Phänomen der Landflucht im frühen 16. Jahrhundert). ABOU-EL-HAJ [258] sieht im späten 17. Jahrhundert ein
Aufbrechen einer geschlossenen Gesellschaftsordnung im Sinne einer stärkeren
sozialen Mobilität. Dagegen wurde eingewandt, daß viele kuls („Sklaven" wie
Janitscharen) von reäyä, also steuerpflichtigen Bauern abstammten, während
zahlreiche sipähis aus kuls hervorgingen. Erst in den letzten Regierungsjahren
wurde den reäyä der Zugang zum sipähi-Korps erschwert. Andererseits begann
die interne Rekrutierung der Zentralbürokratie bzw. der ilmiye erst in den
Jahrhunderten, für die ABOU-EL-HAJ größere soziale Mobilität unterstellt [Rez.
L. T. DARLING in International Journal of Middle Eastern Studies 25, 1993, 118120]. DARLING leitet ihr Buch über die Steuererhebung und Finanzverwaltung
zwischen 1550 und 1660 mit einem Kapitel über den „Niedergangsmythos" ein
[157]. Ihr will nicht einleuchten, daß das süleymanische Zeitalter so harmonisch
(„orderly and smooth-running") war, wie die Verfasser der Fürstenspiegel glauben
machen. Das späte 16. und das 17. Jahrhundert sei vielmehr als Zeitalter der
Konsolidierung zu betrachten, während die Finanzverwaltung der vorausgehenden Jahrhunderte auf die ständige territoriale Expansion zugeschnitten
war. Nach KAFADAR [268] handelt es sich bei osmanischen Zeitkritikern (wie
Mustafa All oder Seläniki) nicht um unzusammenhängende Beobachtungen Einzelner. Vielmehr glaubt er, daß es sich um den Ausdruck einer politischen Elite
gegenüber dem strukturellen Wandel der osmanischen Gesellschaftsordnung zu
Beginn der Neuzeit handelt.
Niedergang
Einzelne Herrscher bis Süleymän I.
Mehmed II.
Als erste Lektüre zur Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. ist die für
einen breiten Leserkreis geschriebene Darstellung von STEVEN RUNCIMAN zu
empfehlen („The Fall of Constantinople 1453", Cambridge 1965, deutsche
Übersetzung 1966). Der von F. BABINGER angekündigte Ergänzungsband mit
Quellenbelegen zu „Mehmed der Eroberer" [269] ist nie erschienen, doch
gleicht die englische Übertragung diesen Mangel zum Teil aus. Der bleibende
Wert dieser Monographie liegt in der Darlegung der Beziehungen zu den italienischen Staaten. Ihre schwächste Seite betrifft die innerosmanischen Verhältnisse. Wegen der manchmal bis ins wörtliche gehenden Nähe zur byzantinischen Chronistik, aber auch zu HAMMER-PURGSTALL und ZINKEISEN und
selbst zu LUDWIG PASTORS Papstgeschichte, wurde BABINGERS Buch sogar in die
Nähe eines Plagiats gerückt [270: TRAPP]. Von Seiten der Osmanistik hat bereits
das Grundwerk heftige Kritik ausgelöst. JACOBS und andere [271] haben die
Voraussetzungen geschaffen, um über Mehmed II. Charakter als östlich und
westlich humanistisch gebildeter Renaissance-Fürst zu reden. Sie lenkten die
Aufmerksamkeit vor allem auf das Vorhandensein vieler nicht-islamischer
Handschriften in der Hofbibliothek des Eroberers. Daß Mehmed II. über
Kenntnisse der „klassischen" Sprachen verfügte bzw. lateinische Studien betrieb,
wie es seine italienischen Panegyristen unterstellten, wurde bestritten [272: PA TRINELIS]. Seine Eigenschaft als Mäzen bleibt davon unberührt. Kein anderer
Renaissance-Fürst, weder in Italien noch in Deutschland, hat eine so große Zahl
von Künstlern mit der
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