Der Osmanische Staat 1300-1922
Gegebenheiten herzuleiten. Ihre wichtigsten Untersuchungsorte sind Ankara
und Kayseri. Ein weiteres Buch der Autorin [564] stellt die für eine breiteres
Lesepublikum gedachten Beobachtungen zur geistigen und materiellen Kultur der
Stadt in den Mittelpunkt. Die Fülle an Monographien zu anatolischen Städten ist
nicht mehr zu überblicken. Viele arbeiten in kanonischer Weise das Datenmaterial
der defter ab: Stadtviertel, Bevölkerungsschätzungen, Bauwerke, Agrarregime,
Landwirtschaft, Steuern usw. [als Beispiel einer gelungenen Monographie vgl.
577: MIROGLU]. Für die wachsende Zahl von Gemeinschaftsarbeiten sei ein Buch über das westanatolische Kütahya [571] angeführt. Dagegen vermißt man
weithin vergleichende Untersuchungen zu einzelnen Gesichtspunkten. Ein Ausnahme bildet bisher nur das Städtewesen des 19. Jahrhunderts [70: HÖHFELD; 560:
AKTURE; 561: DUMONT U. GEORGEON].
Die weit verstreute südosteuropäische Forschungsliteratur zur balkanischen
Stadt wird zu einem beachtlichen Teil von N. TODORov aufgearbeitet [565]. Sein
Buch basiert allerdings nicht - wie das Vorwort der englischen Übersetzung
suggeriert - auf osmanischen Primärquellen. ToDOROV überwindet eingefahrene
(auch von der marxistischen Literatur übernommene) Behauptungen wie die, daß
das rapide Wachstum der Balkanstädte in türkischer Zeit auf Landflucht in unsicheren Verhältnissen zurückzuführen sei. Eigene Forschungsergebnisse enthält
v.a. das letzte Kapitel über eine frühindustrielle Anlage bei Filibe/Plovdiv in den
1850er Jahren. Ein bemerkenswerte, auf breites lokales Quellenmaterial gestützte
Untersuchung der Gesellschaft und Alltagskultur von Saloniki behandelt die
vortanzimatlichen Verhältnisse (um 1830) und die Jahre vor den Balkankriegen
(1812) in kontrastiver Darstellung [580: ANASTASSIADOU]. Was für Anatolien
gesagt wurde, gilt auch für den Balkan: die urbanistische Literatur füllt Bibliotheken, doch geht es den Autoren fast nie um eine Überwindung lokaler
Grenzen, geschweige denn um komparative Analysen.
Die besten Monographien zu osmanischen Städten behandeln jeweils einen
engen Zeitraum. Die stärkere Fokussierung der Forschung wird deutlich, wenn
man die Resultate von zwei bis drei Forschergenerationen hintereinander betrachtet: Beispiele sind Aleppo [572: SAUVAGET], Damaskus [734: BARBIR; 736:
PASCUAL], Bursa [576: GERBER], Istanbul [570: MANTRAN], wobei die großen auch
für die Osmanistik zu wenig genutzten Übersichten häufig von Bauforschern oder
Geographen stammen. Umgekehrt wird die osmanistische Forschungsliteratur
von den anderen Fächern zu wenig wahrgenommen.
Regionalmonographien
Tuzla
Typische jüngere Regionalstudien bestehen aus der Präsentation und Analyse
von tapu-tahrir defterleri, aus der sich die Amtsträger, die Siedlungsverhältnisse,
Einwohnerzahlen und Steuerverpflichtungen ergeben [wie 577: M!ROCLU]. Die
eigentlich unverzichtbare kartographische Darstellung läßt bei den meisten Arbeiten zu wünschen übrig. Zahlreiche Ortsmonographien, die auf osmanischen
Registern des 15./16. Jahrhunderts beruhen, entpuppen sich bei näherer Betrachtung auch als Regionalstudien. Beispielhaft sind die Arbeiten von GöYÜNC,
über Mardin in Obermesopotamien [578] und von HANDCU über Tuzla in Bosnien [579]. Die Tuzla-Studie beruht auf Steuerregistern der Zeit von 1468 bis 1600
und behandelt die Entstehung des sancaks von Zvornik und seine administrativrechtliche Einteilung bzw. seine militärische Organisation. Das Bevölkerungskapitel beschreibt im Detail das Verhältnis von Katholiken, Orthodoxen
(das sind v.a. viehzüchtende Wallachen/Efläk, das erste orthodoxe Kloster entsteht
erst um 1547) und Muslimen. HANDCI stellt eine langsamere Islamisierung in
Bezirken fest, in denen Kirchen und Klöster anzutreffen waren. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts sind ca. 40% der Bevölkerung zum Islam übergetreten, ein
Prozeß, der sich später noch beschleunigte.
3. SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE GEGEBENHEITEN
a) Gesamtdarstellungen der osmanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Ein halbes Jahrhundert nach den ersten Resultaten der BARICANschen defter-
Auswertung entstand ein über 1000 Seiten starker Gesamtüberblick zur osmanischen Wirtschaftsgeschichte von H. INALCIK u. D. QUATAERT (Hg.) unter
dem Titel „Economic and Social History of the Ottoman Empire 1300-1914"
[581]. Er übertrifft an Umfang, aber auch an Dichte und Forschungsnähe der
Darstellung
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