Der Pakt der Liebenden
anders, jemandem, der nicht sie war und doch in ihr war, und jetzt wurde ihr klar, dass die Gefahr, vor der sie so lange geflohen war, der Schatten, der sie ihr Leben lang heimgesucht hatte, keine äußere Kraft war, nichts, das von außen drohte. Es war schon die ganze Zeit in ihr und wartete auf den Moment, da es zum Vorschein kommen konnte.
Emily legte die Hände an den Kopf und presste die Fäuste seitlich an ihren Schädel. Sie kniff die Augen zusammen und mahlte mit den Zähnen, während sie gegen die dichter werdenden Wolken ankämpfte, sich vergeblich zu retten versuchte, an ihrer Identität festhalten wollte, aber es war zu spät. Die Verwandlung ging vonstatten. Sie war nicht mehr das Mädchen, für das sie sich einst gehalten hatte, und bald würde sie für immer vergehen. Sie sah eine ertrinkende junge Frau, genauso wie Melody McReady ertrunken war, gegen die Besinnungslosigkeit gekämpft hatte, und sie war sowohl diese Frau als auch diejenige, die sie festhielt und unter Wasser drückte. Das Mädchen tauchte ein letztes Mal auf und blickte nach oben, und in ihren Augen spiegelte sich ein Wesen, das sowohl alt als auch schrecklich war, ein schwarzes, geschlechtsloses Ding mit dunklen Schwingen, die sich an seinem Rücken entfalteten und sämtliches Licht verdeckten, eine Kreatur, so hässlich, dass sie schon fast wieder schön war, oder so schön, dass es für sie keinen Platz auf der Welt gab.
Es.
Und Emily starb unter seiner Hand, ertrank im schwarzen Wasser und war für immer verloren. Sie war schon immer verloren gewesen, vom Augenblick ihrer Geburt an, als dieser seltsame, ruhelose Geist ihren Körper zu seinem Wohnsitz auserkoren, sich in den Schatten ihres Bewusstseins verborgen und darauf gewartet hatte, dass die Wahrheit über ihn offenbart werde.
Jetzt blickte das Ding, zu dem sie geworden war, auf den kleinen Mann hinab, der sie am Arm festhielt. Sie konnte nicht mehr verstehen, was er sagte. Seine Worte waren lediglich ein Summen in ihren Ohren. Es spielte keine Rolle. Nichts, was er sagte, spielte eine Rolle. Sie roch ihn und spürte die Verdorbenheit in ihm, die den Gestank aus seinen Poren trieb. Ein Mann, der jede Frau misshandelte. Ein Mann voller Hass und seltsamer, brutaler Begierden.
Doch sie verurteilte ihn nicht, ebenso wenig, wie sie eine Spinne verurteilt hätte, weil sie eine Fliege verspeiste, oder einen Hund, weil er auf einem Knochen herumkaute. Es war seine Art, und einen Widerhall davon fand sie auch in sich.
Der Griff wurde fester. Speichel flog ihm aus dem Mund, aber sie sah nur seine Lippenbewegungen. Er wollte aufstehen, dann hielt er inne. Ihm schien klarzuwerden, dass sich etwas verändert hatte, dass das, was er für etwas Vertrautes gehalten hatte, zu etwas absolut Fremdem geworden war. Sie riss ihren Arm los und trat näher zu ihm. Sie legte ihm die Handflächen an das Gesicht, dann beugte sie sich vor und drückte ihren Mund auf seinen, ohne seinen bitteren Geschmack zu beachten, seinen stinkenden Atem, die fauligen Zähne und den vergilbten Gaumen. Er wehrte sich einen Moment lang gegen sie, aber sie war zu stark für ihn. Sie hauchte in ihn, hatte den Blick auf seine Augen gerichtet und zeigte ihm, was aus ihm werden würde, wenn er starb.
Weder Shelley noch Harbaruk oder irgendein anderer Mitarbeiter sah sie gehen. Wenn man ihnen ihre Erinnerungen hätte vorspielen und auf einem Bildschirm hätte zeigen können, was in dieser Nacht vor ihren Augen abgelaufen war, dann hätte der Abgang des Mädchens so gewirkt, als schiebe sich eine gräuliche Masse durch die Bar, eine undeutliche Gestalt, die entfernte Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hatte.
Der große Mann mit dem Pfeil auf dem T-Shirt kehrte von der Herrentoilette zurück. Sein Freund saß an der gleichen Stelle wie zuvor, hatte der Bar den Rücken zugekehrt und starrte geistesabwesend die Wand an.
»Zeit zum Aufbruch, Ronnie«, sagte er. Er klopfte Ronnie auf den Rücken, doch der kleinere Mann regte sich nicht.
»Hey, Ronnie.« Er trat vor ihn und verstummte. Trotz seiner Trunkenheit erkannte er, dass sein Freund ein heillos gebrochener Mann war.
Ronnie weinte Tränen aus Blut und Wasser, bewegte den Mund und bildete ein ums andere Mal die gleichen Worte. Sämtliche Blutgefäße in seinen Augen waren geplatzt, so dass das Weiße völlig rot war und die Pupillen wie zwei schwarze Sonnen an ihrem Himmel wirkten. Er flüsterte etwas, aber sein Freund verstand nicht, was er sagen
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