Der Pakt der Wächter: Roman
hatten; die Formationen, die wir bildeten, um uns zu schützen, die Schritte und Armbewegungen, die wir perfektioniert hatten, um unseren Schwerthieben die größte Kraft zu verleihen; das alles war nutzlos im Kampf gegen diese Wilden, die einfach losstürmten, ohne ihren Feinden auch nur die geringste Chance zu geben. Der Kampf dauerte nicht lange. Das Blut meiner Männer versickerte im Sand und mischte sich mit dem Staub. Millionen von Fliegen sammelten sich auf den eingetrockneten Blutlachen und den klaffenden Wunden der Leichname. Die Sonne brannte heiß. Amon-Ras Zorn war grenzenlos.
Als die Wilden den Sarg DES HEILIGEN aus dem Tempel schleppten, weinte ich. Meine unwürdigen Augen hatten niemals den Zypressenholzsarg in der innersten Kammer gesehen. Weinend flehte ich sie an einzuhalten. Aber sie hörten oder verstanden mich nicht. Vier der Barbaren trugen den Sarg aufs Schiff, wo sie ihn mit dicken Lagen von Stroh und Hanf polsterten und dann mit dem Stoff umwickelten, mit dem sie ihre Segel flickten. Zu guter Letzt schnürten sie das gepolsterte Paket mit Seilen fest und verstauten es im Laderaum unter Deck. Diese Entweihung füllte meine Augen mit Tränen und meine Seele mit Trauer. Die Barbaren ließen die Krüge mit den mumifizierten Organen stehen, raubten aber das Gold, die Juwelen und all die kostbaren Dinge wie die Statue von Anubis, die goldenen Schreine und Statuetten, die Amulette, Schmuckskarabäen, die magischen Figuren, zwei der Schiffsmodelle und einige der Schabti, die DEM HEILIGEN im Jenseits dienen sollten. Zu meinem Entsetzen sah ich auch die versiegelten Schreine mit DEN HEILIGEN SCHRIFTEN . Nichts ließen sie in Frieden.
Als Gefangener auf dem großen Schiff des Jünglings mit den blauen Augen blieb ich bis zur Mündung des Nils an den Mast gefesselt. Im Schatten des Turmes von Alexandria änderten sie den Kurs und segelten nach Westen zur Wiege der Sonne.
Welche Ängste ich ausgestanden habe! Heiliger Osiris, sie stinken! Wie unreine Tiere – ja, wie Schweine mit verfaulten Eingeweiden, wie Dachse mit Wundbrand – verpesten sie die Luft um sich herum mit ihren Ausdünstungen; ein harscher Gestank von saurem Schweiß, Aufgestoßenem, dem Gas der Gedärme, den ungewaschenen Füßen und Geschlechtsorganen; ihre Kleider sind über und über voll mit den Resten ihrer Notdurft und ihres Urins, ihres Schweißes und vom Blut und den verfaulenden Eingeweiden ihrer Opfer. Genau wie ibn Fadlan es geschildert hat: Sie sind schmutzig und kümmern sich nicht um die Ausdünstungen ihrer Körper. Aber sie haben auch menschliche Eigenschaften: Sie sind stolz, haben ein ausgeprägtes Ehrgefühl und achten ihren Stamm und ihren Besitz. Seit zweihundert Jahren segeln sie über die Meere und Flüsse und plündern und verwüsten. Ich verstehe gut, warum die Küstenbewohner sie fürchten. Sie sind schnell und ohne Gnade. Lange bevor ihre Gegner ihre Heere zusammengetrommelt haben, sind sie an Land gestürmt und auch schon wieder verschwunden – mit ihrem Diebesgut, Frauen und Sklaven. Ihre raschen Kampfschiffe haben wenig Tiefgang und sind flach genug, um damit in den Strömen flussauf segeln zu können. Ihr Kampfesmut ist ohne Grenzen. Sie sind blutrünstige Löwen, schlau und scharfsinnig und im Kampf furchtlos, grob und brutal. Mit ungezügelter Wildheit kämpfen sie gegen jeden Feind. Sogar tödlich verwundet oder mit abgetrennten Gliedmaßen setzen sie den Kampf fort. Mutige Männer, die im Kampf sterben, werden von Walküren in ein Paradies gebracht, das sie Walhalla nennen. Dort leben die Gefallenen als Einherier und können in alle Ewigkeit kämpfen, essen, trinken. Das Ende der Zeit nennen sie Ragnarök.
Von den Sklaven, die mir das Essen brachten, habe ich viele Worte gelernt. Andere habe ich aufgeschnappt, indem ich den Gesprächen der Männer gelauscht habe. Ich lerne schnell. Mit acht Jahren beherrschte ich bereits die Sprachen der sechs Länder, die Ägypten umgeben. Als ich zwanzig wurde, sprach ich zwölf Sprachen. Es gibt Menschen, die kommen mit guten Gesangsstimmen auf die Welt. Ich wurde mit der Gabe geboren, Sprachen zu lernen.
Über Tage und Wochen segelten wir erst nach Westen und dann nach Norden. Die Luft wurde kälter. Bald durfte ich mich frei auf dem Schiff bewegen.
Die Wilden griffen Siedlungen entlang der Küste an. Sie wüteten, brandschatzten und töteten. Beim vorläufigen Ende der Reise liefen wir eine Stadt weit im Landesinneren an. Ihr Name war Rouen. Sie lag
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