Der Pakt der Wächter: Roman
Augen. Dann beugt er sich wieder vor und sucht so plötzlich meinen Blick, dass ich zusammenzucke.
»Asim vereinte Strömungen und Ansichten in sich, die wir im Westen schnell als unvereinbar abstempeln. Als Hohepriester diente er den ägyptischen Göttern. Aber Amon-Ra muss ein toleranter Gott gewesen sein, denn Asim betete auch Abraham und Moses an, Jesus und Mohammed. Er war Astrologe und praktizierte okkulte Magie und Zauberei. Gleichzeitig war er belesen und sprachkundig und beherrschte viele Wissenschaften seiner Zeit. Ein gelehrter, kluger Mann. Er hatte sein Leben einer einzigen Aufgabe gewidmet: dem Schutz einer Grabkammer mit einer heiligen Mumie und den Schätzen und Texten, die dem Toten als Grabbeigaben mitgegeben worden waren. Die Mumie war zu Asims Lebzeiten zweieinhalbtausend Jahre alt, also älter als die Gebeine Jesu heute, so sie denn existieren. Als die Wikinger den Tempel angriffen und die Grabkammer ausräumten, schändeten sie seinen Glauben und entrissen ihm seine Lebensaufgabe. Asim hätte sein Leben für die Mumie geopfert. Als er aber erkannte, dass die Übermacht zu groß war, entschloss er sich, die Mumie nicht allein zu lassen. Nur indem er dem feindlichen Heer folgte, hatte er die Möglichkeit, das Heiligtum weiter zu beschützen und es vielleicht, wenn die Zeit gekommen war, wieder zurück nach Ägypten in die ewige Ruhestätte seiner Grabkammer zu bringen.«
»Ein ambitioniertes Projekt.«
»Ein ambitionierter Mann.«
»Wie konnte Olav die Grabkammer finden, wenn doch alles so streng geheim gehalten wurde?«
»Ein abtrünniger, ausgestoßener Priester des Amon-Ra-Kultes zeichnete zu Königin Kleopatras Zeiten eine Karte, auf der nicht nur die Lage der Grabkammer am Nil, sondern auch der Eingang im Tempel und die beiden äußeren Grabkammern verzeichnet waren, die die innere Kammer schützen sollten. Vermutlich hat er versucht, sich bei den Römern einzuschmeicheln. Aber die Römer haben dem Verräter allem Anschein nach nicht getraut. Wir wissen nur, dass die Karte über Kleopatras Ehemann Marcus Antonius in Rom landete. Später wurde sie vermutlich versehentlich mit einigen Geschenken an König Adalstein von England verschickt. Der überließ sie seinem Stiefsohn Håkon dem Guten, ehe die Karte dann in die Hände des jungen Olav Haraldsson gelangte.«
Esteban reibt sich die Nasenwurzel, als hätte er Kopfschmerzen. Sein Blick entlässt mich und schwebt davon, als würde er sich in diesem Moment unmerklich in einen anderen Menschen verwandeln; er erinnert mich an die verlorenen Seelen in der Nervenklinik, an all jene, die sich zu tief im Dickicht des Wahnsinns verirrt haben.
»Bei Herzog Richard in Rouen schrieb Asim einen Hilferuf an den Kalifen von Ägypten. Von dort aus schickte er auch die erste koptische Übersetzung des Papyrusfragments, das sich in der Grabkammer befunden hatte. Ein paar Jahre später – von Norwegen aus – sendete er einen weiteren Hilferuf und eine Karte an den Kalifen, die er im Innern einer Keramikfigur versteckte. Aber der Postverkehr war seinerzeit nicht gerade hoch entwickelt. Die Notrufe, die Karte und die Übersetzung des altertümlichen Dokuments wurden der Reihe nach von den Spionen des Vatikans abgefangen, die die gesamte verdächtige Post überwachten.«
Aus einer Schachtel aus hauchdünnem Holz fischt sich Esteban eine neue Zigarre, die er beinahe zeremoniell anzündet. Ehe er weiterredet, sitzt er einen Moment mit halb geschlossenen Lidern da und atmet genießerisch den Rauch ein.
»Während König Olav Haraldsson Norwegen mit Gewalt und Drohungen christianisierte, saß Asim auf Selja und wartete auf seine Landsleute. Irgendwann muss er dann aber begriffen haben, dass ihm in dieser eisigen Ödnis niemand zu Hilfe kommen würde. So entwickelte er schließlich einen Plan, nicht nur um die Mumie zu schützen, sondern um sie tatsächlich wieder zurück nach Ägypten zu bringen.«
»Was für einen Plan?«
»Er gründete eine Bruderschaft, einen Orden, den Pakt der Wächter. Die ersten Wächter waren kriegerische Mönche, die Asim aus dem Kloster auf Selja kannte, und Männer aus dem engeren Kreis des Königs. Der Orden setzte sich aus Mönchen, Skalden, Runenmeistern und Wikingern zusammen, die noch immer ihren Asenglauben pflegten. Und Asim vernetzte all das mit koptischer und ägyptischer Mythologie. Er glaubte daran, dass die Mumie als Gott in Menschengestalt wiederauferstehen würde. Die Christen warteten auf den wiederauferstandenen
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