Der Pakt der Wächter: Roman
Wilden waren lautlos wie Kobras. Die listigsten und gefährlichsten Tiere machen die wenigsten Geräusche. Man hört das Krokodil erst, wenn es seine Zähne in einen schlägt, oder die Schlange, wenn ihr Gift einen bereits lähmt. Beunruhigt folgte ich den Schiffen mit dem Blick. Sie waren so viel schneller als die Flussschiffe, die ich kannte. Wie war es ihnen gelungen, an den Festungen und Zollposten vorbeizukommen? Welche unüberwindbaren Kräfte besaßen diese Fremden? Ich hoffte, dass sie weiter wollten nach Karnak oder Waset oder ins Tal der Könige tiefer im Süden, nach Swenet oder Abu Simbel. Aber meine Hoffnung schwand, als die vorderen Schiffe die Segel refften und Kurs auf das Ufer nahmen. Lange Reihen von Rudern schoben sich aus den Schiffsrümpfen und bewegten sich rhythmisch. Kein Laut war zu hören. Kein Brüllen. Kein Kriegsgeschrei. Nur Stille. Die dämonischen Drachenköpfe grinsten mich höhnisch an. Ich rannte zurück in den Tempel und schickte den Priester Fenuku los, um die Tempelwächter und die Leute im Dorf zu warnen. Danach hastete ich zurück zum Felsplateau. Unten am Flussufer waren die Wilden im Begriff, an Land zu gehen. Mächtiger Anubis, sie waren so zahlreich, sie kamen zu Tausenden, und sie waren von riesenhafter Statur; gewaltige, große, muskulöse Männer mit langen ungekämmten Haaren und Bärten. Jeder von ihnen trug ein Schwert, eine Axt, einen Speer und einen dekorierten Schild.
In Gruppen, die die Erde erbeben ließen, sprangen sie aus ihren Schiffen und strömten, angeführt von einem großen, gedrungenen, muskulösen Jüngling, auf den Tempel zu. Ich wich nicht von meinem Platz. Stolz hob ich meinen Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Götter würden mir beistehen. Ägyptens ewiger Herrscher würde DEN HEILIGEN schützen. Der Jüngling blieb ein paar Schritte vor mir stehen. Sein Gesicht war breit, blass und rötlich, die Haare hellbraun und verfilzt. Die blauen Augen schimmerten in der aufgehenden Sonne wie Saphire. Schließlich verstand ich, um wen es sich bei diesen Männern handeln musste. In den Aufzeichnungen des Diplomaten Ibn Fadlan über seine Reise auf dem Fluss Volga vor bald hundert Sommern hatte ich über die furchtlosen, barbarischen ar-rus gelesen. In al-Yaquabis geographischem Werk berichtete er über die Wilden, die über den gewaltigen Fluss Cordoba bis nach Sevilla vorgedrungen waren. Al-Magus. Die Feueranbeter.
Weichet fort!, rief ich mit donnernder Stimme und streckte meine Arme zum Himmel. Kehret um! Die mächtigsten Götter bewachen diesen Tempel.
Im Totenbuch ist von der Zeit der Entscheidung, der Zeit der Rache die Rede. Und diese Zeit war jetzt gekommen. Der Jüngling starrte mich an. Als er einen Schritt vortrat, um mich niederzuschlagen, bereitete ich mich darauf vor, meinen Ahnen gegenüberzutreten. Meine Götter ließen mich offensichtlich allein. Doch im entscheidenden Augenblick flüsterten sie mir ins Ohr, der Tod sei keine Heldentat, sondern käme einer Flucht vor meiner heiligen Aufgabe gleich. Als Toter konnte ich DEM HEILIGEN nicht dienen. Ich musste mich unterwerfen. Meine Pflicht, mein Leben war es, DEN HEILIGEN und seine Schätze zu beschützen. Und deshalb, mächtiger Amon-Ra, ließ ich mich auf die Knie fallen, hob meinen Blick und sah den Jüngling an. Deshalb, großer Osiris, presste ich Handflächen und Stirn auf den Boden, um mich zu ergeben. Es war aus demütiger Aufopferung, heiliger Löwe Sekhmet, dass ich mich diesen unzivilisierten Ungläubigen vom Ende der Welt unterwarf, und niemals, heilige Götter, aus Furcht.
Der Jüngling ließ mich am Leben. Zwei seiner Untertanen zogen mich hinter sich her zum größten Schiff und fesselten mich an den Mast.
Die Barbaren kannten keine Gnade. Auf dem Tempelplateau hatten sich viele Priester versammelt, eine Gruppe bewaffneter TempelWächter und zahlreiche Handwerker mit Spaten, Hacken und Äxten. Einige von ihnen drangen tapfer in den Tempel ein, um den Eingang der heiligen Grabkammer hinter dem Altar zu schützen. Andere zückten ihre Waffen und marschierten im Gleichschritt auf die Mannschaft unten am Fluss zu. Hilflos an den Mast gefesselt, musste ich zusehen, wie die Wilden jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, niederschlugen. Einer nach dem anderen wurden unsere mutigen Männer gefällt und von den Schwertern und Äxten der Barbaren verstümmelt. Gegen diesen Schwarm von Gottlosen half keine der Taktiken, die wir auf dem Tempelplatz eingeübt
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