Der Pakt der Wächter: Roman
Eine Krankenschwester streichelt mir tröstend über die Wange, während mich die Polizisten ausfragen. Ich deute auf den Riesen auf dem MMS-Bild und sage, dass es sich bei dem Kleineren um eine der anderen unscharfen Personen im Bildhintergrund handeln könnte. Sie machen sich mit einer Selbstverständlichkeit auf ihren Spiralblöcken Notizen, als würde Island regelmäßig von gewalttätigen Arabern heimgesucht, die nationale Kulturgüter stehlen und unschuldigen Forschern die Finger brechen.
Nach ein paar Minuten habe ich ihnen alles gesagt, was ich weiß. Der Krankenwagen ist ohne mich zurück zum Krankenhaus gefahren.
Zwei Polizisten bleiben bei mir im Hotel. Einer vor meiner Tür, der andere unten in der Rezeption.
Während der ganzen Nacht schlafe ich unruhig. Das Universum ist zu einem einzigen, schmerzerfüllten Punkt kollabiert: meinem kleinen Finger.
3
»Bjørn Beltø?«
Die Frau, die in der Türöffnung steht, presst einen Umschlag an ihre Brust und sieht unsicher von dem Polizisten zu mir.
Ich komme gerade vom Frühstück zurück. Mit Polizeieskorte.
»Mein Mann und ich sind Freunde von Sira Magnus«, fährt sie in einer Mischung aus Norwegisch und Dänisch fort und fügt dann hinzu: »Gewesen. Wir sind im Ältestenrat der Gemeinde in Reykholt. Mein Mann singt im Kirchenchor. Darf ich hereinkommen?«
Sie wirkt nicht unbedingt gefährlich. Trotzdem mustert der Polizist sie von Kopf bis Fuß.
»Mein Mann wartet im Auto«, sagt sie, nachdem ich sie hereingebeten und die Tür geschlossen habe. Sie ist es offensichtlich nicht gewohnt, mit fremden Männern in deren Hotelzimmer zu gehen. Sie bleibt in der Mitte des Raumes stehen, den Umschlag noch immer auf die Brust gepresst. »An dem Tag, an dem Sira Magnus gestorben ist …«
»Ja?«
»Er ist vormittags noch bei uns gewesen und hat gesagt, falls ihm etwas zustößt, sollen wir Ihnen den hier geben.« Sie reicht mir den mit mehreren Streifen Klebeband versiegelten Umschlag: »Wir sollten nicht zur Polizei gehen, aber dafür sorgen, dass Sie den Umschlag bekommen.«
»Danke.«
»Wir versuchen schon eine Weile, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.«
»Es tut mir leid, ich war sehr beschäftigt.«
»Wir haben das im Radio gehört. Sie haben eine Höhle bei Thingvellir gefunden?« Sie legt den Kopf zur Seite, als warte sie auf eine Erklärung.
»Herzlichen Dank. Sira Magnus wäre Ihnen sehr verbunden.«
Als ich schweige, geht ein Ruck durch sie, dann wiederholt sie noch einmal, dass ihr Mann unten im Auto wartet. Sie geht, nachdem ich ihr ein weiteres Mal gedankt habe.
4
Ich reiße den Umschlag auf und ziehe einen Zettel heraus.
Vergib mir, Sira Magnus, aber ich kann nicht anders, ich muss lachen. Das sieht ihm ähnlich. Er ist sich wirklich treu geblieben, bis in den Tod.
Der Text besteht aus drei Zeilen.
In Runenschrift.
Auf den ersten Blick sieht der Text vollkommen unverständlich aus. Ich kann Runen lesen, aber das Geschriebene bleibt auch auf den zweiten und dritten Blick vollkommen sinnlos.
Oben auf dem Zettel steht:
G 88 C 3
Darunter folgen die Zeilen:
Ich starre lange auf den Text und versuche, ihm einen Sinn zu entlocken. Aber auch wenn ich mich Zeichen für Zeichen durch die Zeilen buchstabiere, bleibt mir ihr Inhalt verschlossen.
Die Runen sind codiert.
Er muss befürchtet haben, dass etwas geschieht. Aus Angst vor dem, was sie tun könnten, hatte er die Nachricht bei Freunden deponiert, denen er vertraute. Die Erkenntnis jagt mir einen Schauer über den Rücken. Sira Magnus musste gewusst haben, dass er sich in Lebensgefahr befand.
Was wusste er noch? Welches Geheimnis hatte er mit ins Grab genommen?
Beim Anblick des Textes fällt mir ein Muster auf, das ich aber nicht verstehe. Er muss die Zeichen nach der Caesar-Methode verschoben haben, aber wie viele Zeichen? Und in welcher Richtung?
Aus dem Hotelzimmer rufe ich meinen guten Dechiffriergeist an und diktiere ihm den Text.
»G88C3«, murmelt Terje Lønn Erichsen. »Das muss der Schlüssel sein.«
Plötzlich kommt mir etwas in den Sinn. »G88! Das ist die offizielle Bezeichnung für den Stein von Kylver«, platze ich heraus. Dieser Stein wurde 1903 in einem Grab beim Hof Kylver auf Gotland gefunden; eine Kalksteinplatte, in die das ältere futhark geritzt war, die älteste Runenreihe. Wir transkribieren den Lautwert der Runen und erhalten folgenden, unbegreiflichen Text:
iii.ndgëo.hÞd
rëtwpgdt: uëp dÞb
sgëëiÞwu: dëp oëutpëhgs
»Wir nähern
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