Der Pakt der Wächter: Roman
sich von der Höhlenwand kaum ab. Auf der länglichen Lavakonstruktion liegt eine schwere, glatte Steinplatte.
Wir stellen uns an den Enden der Steinplatte auf und heben sie herunter. In dem Hohlraum darunter liegt eine pechschwarze Truhe.
Mit größter Vorsicht stellen wir die Truhe quer über die Aushöhlung des Altars. Ich streife mit der Fingerspitze über den Deckel.
»Staub? Ruß? Lava?«, fragt Thrainn.
»Nein, weder noch.« Ich reibe etwas fester. Meine Vermutung bestätigt sich. Die äußere Schicht ist angelaufen. »Das ist«, sage ich, »das ist Silber.«
5
Wir packen die Silbertruhe in eine Plane ein und tragen sie zum Parkplatz. Dort schnallen wir sie mit Gurten hinten in Thrainns Toyota Landcruiser fest.
Wir sind so aufgewühlt, dass wir kaum ein Wort wechseln.
Thrainn biegt in Richtung Reykjavik auf die Hauptstraße ein. Die Straße ist schnurgerade. Kein Auto weit und breit. Mit gut einhundertdreißig Stundenkilometern rasen wir durch die Mondlandschaft. Links von uns glitzert der Thingvallasee. Der Horizont ist von vulkanischen Zinnen angeknabbert.
Der Chevy Blazer steht quer auf der Straße, als wir den Hügelkamm erreichen.
Zwei Männer haben sich links und rechts neben dem Wagen aufgestellt. Beide halten die Hände in einer merkwürdigen Haltung vor den Schritt, als würden sie für ein Filmplakat posieren. In dem grellen Gegenlicht kann ich nicht ausschließen, dass sie bewaffnet sind.
Thrainn reagiert blitzschnell. »Festhalten!« Ohne zu zögern reißt er das Lenkrad rum und steuert den Landcruiser von der Straße. Ich schreie laut auf. Thrainn beißt die Zähne zusammen und starrt konzentriert nach vorn, als wäre plötzlich ein Action-Held in ihm erwacht. Man könnte meinen, er wäre Mitglied eines Sondereinsatzkommandos und hätte die letzten fünfzehn Jahre nur vorgetäuscht, über isländische Handschriften zu forschen, während er in Wirklichkeit eine Undercover-Aktion vorbereitete.
In einer Wolke aus Staub und Sand entfernen wir uns immer schneller von dem Blazer und der Hauptstraße. Die Reifen holpern über den unebenen Untergrund.
In der Staubwolke hinter uns tauchen die Frontscheinwerfer des Blazers auf.
Thrainn lenkt den Wagen zwischen riesigen Felsen hindurch. »Wir fahren auf den Überresten eines alten Karrenweges zwischen Reykjavik und Thingvellir«, ruft er.
Obgleich wir den Vorteil haben, vorne zu fahren, mit einigermaßen klarer Sicht, holt der Blazer schnell auf.
»Rufen Sie die 112 an!«, ruft Thrainn.
Ich fummele das Handy heraus. Zum Glück habe ich Empfang. Als der Mensch am anderen Ende endlich kapiert, dass ich Englisch spreche und nicht irgendeinen obskuren isländischen Dialekt und dass wir tatsächlich von bewaffneten Männern verfolgt werden, schickt er einen Einsatzwagen in unsere Richtung. Obwohl es hier draußen in der Öde nicht so einfach ist, eine konkrete Adresse anzugeben.
Der Blazer ist wenige Meter hinter uns. Plötzlich dreht er nach rechts ab, um uns den Weg abschneiden.
Ich sehe den Felsen vor dem Fahrer des Blazers. Er kann nicht mehr bremsen oder ausweichen. Mit einem metallischen Krachen schiebt sich der Wagen auf den riesigen Stein.
Und bleibt stehen.
Wir folgen dem Karrenweg noch ein paar Kilometer, ehe wir auf eine asphaltierten Nebenstraße stoßen, die uns zurück auf die Hauptstraße führt.
Die Polizisten melden sich, als wir fast die Universität erreicht haben. Sie wollen wissen, wo wir sind.
Dass sie uns nicht gefunden haben, ist nachvollziehbar.
Dass sie aber auch keinen Blazer entdeckt haben, ist besorgniserregend.
6
Im Árni-Magnússon-Institut suchen wir uns ein freies Labor. Ein Konservator, ein Freund von Thrainn, hilft uns beim Öffnen der Truhe.
Gut gepolstert zwischen Baumwolle und Leinen liegt eine Schachtel aus hartem Holz, in ihr sechs dicke Manuskriptrollen aus Tierhaut, mit einer Lederschnur zusammengebunden, geschützt von mehreren Lagen weicher Stoffe.
Unendlich behutsam öffnen wir die erste Pergamentrolle. Sie ist in verblüffend gutem Zustand. Die Häute sind von zwei Spalten mit kleinen, symmetrischen Schriftzeichen bedeckt. Ich versuche, etwas zu entziffern, aber die Zeichen sind unverständlich, wenn auch vage bekannt. Thrainns Blick gleitet über die dicht beschriebenen Seiten. Die beiden Spalten sind in unterschiedlicher Sprache abgefasst. Die linke Spalte sieht koptisch aus, die Sprache, die in Ägypten etwa ab dem Jahr 200 bis ins 12. Jahrhundert geschrieben und gesprochen
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