Der Pakt der Wächter: Roman
vom lateinischen Alphabet verdrängt, wenn sie auch einige hundert Jahre lang parallel verwendet wurden.
Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, übersetze ich den Runentext. Es scheint sich um eine Mischung aus Regelsammlung, Beschwörung und Anweisung zu handeln. In modernem Norwegisch wiedergegeben, beginnt der Runentext wie folgt:
Gib acht, Leser der geheimen Runen. Die Peinigungen Duats, Helheims und der Hölle erwarten dich, der du ohne Erlaubnis das Geheimnis der Zeichen deutest. Hebe dich hinweg von diesem göttlichen Pergament.
Denn es ist so: Im göttlichen Rätsel bewachen wir das heilige Geheimnis. Die Kraft der Runen verbirgt die Prophezeiung im Nebel der Zeichen.
Auserkoren seiest du, der du das Rätsel mit deiner Ehre und deinem Leben bewachst. Deine göttlichen Helfer Osiris, Odin und der Weiße Christ folgen deinen Schritten. Gelobet seiest du, Amon!
Noch merkwürdiger mutet der nächste Vers an, ebenfalls in Runen geschrieben, aber offenbar aus dem Ägyptischen übertragen:
- DER SCHLÜSSEL -
Die Diener des königlichen Hofes gehen im Gefolge
Des Osiris-Königs Tutanchamon nach Westen.
Sie rufen: »O König! Komme in Frieden!
O Gott! Hüter des Landes!«
Was für ein Schlüssel?
Auf den Runentext folgen einige Seiten, die Snorri zweihundert Jahre später persönlich mit lateinischen Buchstaben, Karten und Zeichnungen gefüllt hat. Manche Teile sind codiert, andere lesbar.
Könige und Jarle, Goden und Ritter, Dichter und Eidgenossen, verbunden in dem heiligen Kreis der WÄCHTER des göttlichen Geheimnisses.
Nur die Auserwählten und Eingeweihten sollen die versteckten und verborgenen Zeichen deuten.
Ich stelle mir Snorri in seiner Schreibstube auf Reykholt vor. Das Scriptorium von Talglichtern und Tranlampen erhellt, die an den Wänden, unter der Zimmerdecke und auf den hohen, schräg gestellten Schreibpulten platziert waren. Wahrscheinlich hat er die Schreiber rausgeschickt, um allein zu sein. Vor sich, fest auf die Schreibplatte gespannt, hatte Snorri das weiße, weiche Kalbslederpergament. Die Feder gespalten und angespitzt. Und dann begann er zu schreiben, mit gleichmäßiger Handschrift folgte er den leicht angedeuteten Hilfslinien. In die Mitte der Seite zeichnete er ein Pentagramm. Einen Drudenfuß … Zu Snorris Zeit glaubte man, sich vor bösen Mahren schützen zu können, die einem die Nachtruhe raubten, indem man den Stern in die Tür einritzte.
Selbst in diesem modernen Büro, das mit Computer, Telefon, Fax und einem magnetischen Büroklammerbehälter ausgerüstet ist, bilde ich mir ein, die Kraft des Pentagramms zu spüren. Seit fünftausend Jahren leuchtet dieser fünfzackige Stern am Himmel des Okkultismus. Die Ägypter zogen einen Kreis um den Stern, duat , der auf die Unterwelt verwies, das Jenseits. Die Araber benutzten ihn in der Magie und bei rituellen Handlungen. Die Pythagoräer waren der Meinung, das Pentagramm spiegele mathematische Perfektion wider, weil in seinen Linien sowohl der goldene Schnitt als auch die Verhältniszahl 1,618 verborgen sind. Für die Juden symbolisieren die fünf Zacken die fünf Bücher Mose. Für die Christen steht das Zeichen für Schwarze Magie und die fünf Wundmale Jesu. Und wenn man die Spitze nach unten drehte, bekam man ein Zeichen des Satanismus.
Auf der fünften Seite ist eine Landkarte über Südnorwegen, von Trondheim und südlich davon. Die Karte ist nicht sonderlich detailliert. Zu Snorris Zeit basierten die Karten auf Augenmaß und Schätzungen. Die erste uns bekannte Landkarte vom Norden ist die Nacykarte von 1427. Sie wurde von dem Dänen Claudius Clavus gezeichnet, der ein paar Jahre in Rom lebte und mit den päpstlichen Kardinälen und Sekretären verkehrte. Gleichwohl hatte einige hundert Jahre vor ihm jemand eine Karte über das Østlandet gezeichnet – kopiert aus einem noch älteren Runenpergament.
Stunde um Stunde brüte ich über dem Text und studiere die Zeichnungen. Ich übersetze die Runen und Snorris Text, aber an dem Code beiße ich mir die Zähne aus. Ahne, dass sich darin eine Botschaft verbirgt – eine Anweisung – in den Worten, vielleicht sogar in einem Code, den ich gar nicht bemerke. Ich nehme die Norwegenkarte und die Symbole noch einmal genauer unter die Lupe.
Aber ich kann dem Ganzen keinen Sinn abgewinnen.
Nach der Mittagspause – zwei Scheiben Brot mit Gouda, einen halben Kohlrabi, eine Möhre und eine Tasse Tee – rufe ich den Polizeichef in Borgarnes an, um mich zu
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