Der Pakt der Wächter: Roman
genau meine Vorstellung einer waschechten Wiccahexe. Sie ist hinreißend auf eine sensuelle und verhaltene Weise. Schmale, glänzende Lippen und eisblaue Augen voller verschleierter Verheißungen.
Sie lebt in Lillehammer, in einem zugigen Krähennest, von dem die Farbe abblättert, umgeben von einem Garten voller vergessener Apfelbäume, zerzauster Johannisbeerbüsche und Komposthaufen, die schon vor Langem sich selber überlassen wurden.
Sie führt mich durch den Windfang in die Diele, wo ich meine Jacke über einen Haken hänge. In bauschenden Gewändern, die ihre Formen fast verdecken, schwebt sie vor mir durch einen Flur, der in ein Wohnzimmer führt, in dem sich Bongotrommeln, aufgespannte Zebrafelle, Holzmasken, Speere, ein Antilopenkopf und Traumfänger mit Straußenfedern und Löwenkrallen drängeln.
Adelheid reicht mir einen großen Keramikbecher mit Kräutertee.
»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Das wurde auch mal Zeit! Der etablierten Wissenschaft hat immer schon das Verständnis für die Heilige Geometrie gefehlt! Sie sind der erste Professor, der mir die Ehre seines Besuches erweist.«
Anstatt sie darauf hinzuweisen, dass ich nur ein popeliger Dozent bin, der im Grunde genommen nicht viel mehr als sich selber repräsentiert, nippe ich an dem Kräutertee, der wie ein Absud aus Gras und eingegangenen Stauden schmeckt.
Adelheid hat vier umstrittene Bücher über die Geschichte der Heiligen Geometrie und deren Einfluss auf die Anordnung von nordischen Klöstern, Kirchen, Grabplätzen und Schlössern geschrieben.
»Man stößt überall in Norwegen auf Beispiele für Heilige Geometrie. Aber die meisten Wissenschaftler tun unser Fachgebiet als reinen Aberglauben ab.« Sie hat eine warme Stimme. Als sie ihre Hand auf meine legt, klirren die Steinperlenarmbänder. Der unerwartete Hautkontakt lässt mich nicht unbeeindruckt.
Sie fährt fort, bevor ich eine Frage stellen kann. »Entlang der norwegischen Küste, zwischen Rogaland und Nordfjord, zeugen sechzig Steinkreuze vom keltischen Einfluss der Christianisierung Norwegens bis um 1000 n. Chr. Olav der Heilige erntete die Früchte der Kelten. Glauben Sie, dass die drei, vier Meter hohen Kreuze zufällig aufgestellt wurden?«
»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.«
»Ziehen Sie doch mal eine Linie vom Kloster Utstein bei Stavanger nach Tønsberg und von dort nach Nidaros. Kann es ein Zufall sein, dass die Linien einen Neunziggradwinkel bilden?«
»Hm.«
»Oder dass die Zisterzienser 1146 das Lysekloster errichteten, 1147 das Sancta-Mariae-Kloster auf Hovedøya im Oslofjord, 1180 Munkeby in Trondheim und 1207 Tautra im Trondheimsfjord?«
»Wohl kaum.«
»Ist es vielleicht ein Zufall, dass das Augustinerkloster in Utstein genauso weit von Oslo entfernt liegt wie das Lysekloster? Oder dass es sowohl vom Tunsberghus in Tønsberg zum Halsnøy-Kloster, das 1163 von den Augustinern gegründet wurde, als auch von Tønsberg nach Utstein exakt zweihundertfünfundsiebzig Kilometer sind?«
»Hm.«
»Alle alten heiligen Plätze Norwegens sind einer mathematischen Logik unterworfen, die beweist, dass unsere Vorväter ihr Wissen und ihre Inspiration von den Griechen und Ägyptern genommen haben. Oder ist es ein Zufall, dass die heiligen Städte Bergen, Trondheim, Hamar und Tønsberg auf mittelalterlichen Karten in Form eines Pentagramms angeordnet waren?«
Mir ist kalt. Sehr kalt. Ich habe ihr bisher so gut wie nichts über den Grund meines Besuches gesagt. Trotzdem greift sie einer der Fragen vor, die ich ihr stellen wollte.
»Ich will nicht den Eindruck erwecken, ich wäre panisch oder melodramatisch«, sage ich. »Aber in Island wurde ein Priester für etwas umgebracht, was ich Ihnen jetzt zeigen möchte.«
Ich reiche ihr den Ausdruck vom Snorri-Codex.
»Sind das die Thingvellirrollen?«
»Nein, aber dieser Text hat uns zu der Höhle in Thingvellir geführt. Snorri hat den letzten Teil niedergeschrieben, der in lateinischen Buchstaben verfasst ist. Der Runentext wurde vermutlich einige hundert Jahre früher geschrieben. Die Karten dürften aus der Zeit zwischen 1050 und 1250 stammen.«
Sie blättert andächtig in dem Ausdruck und sieht sich die Karten und Symbole an. »Anch! Pentagramm! Das ist ja fantastisch!«
Ich gebe ihr eine kurze Zusammenfassung des Runentextes und teile ihr meine Vermutung mit, dass sich in dem Text und den Karten wahrscheinlich eine geheime Anweisung verbirgt.
»Hier«, sage ich und blättere weiter, »ist
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