Der Pakt des Seelensammlers (German Edition)
»Wartet«, sagte sie und richtete sich auf. Sie ließ den Lichtkegel ihrer Taschenlampe durch den Raum wandern. »Hier stimmt etwas nicht.«
»Miranda?«
»Sehen Sie sich das an, John.« Sie winkte ihn zum Fenster. Als sich beide Lichtkegel auf der Scheibe vereinigt hatten, sah er es auch.
»Wie ist das möglich?« Die ganze Scheibe war von innen zugefroren. »Es kann unmöglich hier so kalt sein.« Das Eis glitzerte milchig stumpf im Licht. Lange streckte einen Finger aus.
»Nicht anfassen«, sagte eine heisere Stimme. Mirands Herz machte einen gewaltigen Sprung. Jack hatte sich aufgerichtet, auf seinem Gesicht ein müdes Lächeln. »Das hätte mich fast erwischt.«
45
Der Sturm wütete und in seiner Mitte regierte Dunkelheit. Das Auge des Sturms war von Dunkelheit beherrscht, die alles Licht verschluckte, das in ihre Nähe geriet. Der Sturm war unersättlich und würde nicht eher ruhen, bis er vollends gesättigt war. Der Mann wusste dies, und er wusste auch, dass es noch viel mehr gab, was er erfahren musste, um die kommenden Stunden zu überstehen.
Die Dunkelheit sprach mit ihm. Er hörte ihre Stimme in seinem Kopf und er konnte ihr antworten.
Zu Beginn hatte er nicht geglaubt, was er zu hören bekam. Der Mann dachte, er sei verrückt geworden. Stimmen, Stimmen in seinem Schädel. Vielleicht war er das auch, aber alles was die Stimme sagte, war so klar und rein wie der Schnee, der draußen fiel ...
Der Mann starrte durch sein Fenster in sein eigenes Gesicht.
Die Erinnerung glich einer vielschichtigen Zwiebel, von der sich nach und nach eine weitere Haut abschälte.
Hör mir zu, sagte die Stimme. Du hast vieles vergessen über die Jahre. Du musst dich erinnern. Es muss dir gelingen. Streng dich an. Streng dich an! Wenn du versagst, war alles um sonst!
Der Mann presste seine Stirn an die kalte Fensterscheibe. Die dort draußen, sind keine Feinde. Sie können dir helfen.
Du musst dich nur erinnern.
Gelingt es dir nicht, erwartet dich schlimmeres als das, was sich zu dieser Zeit dort draußen herumtreibt. Erinnere dich und du weißt es.
Eine weitere Schale löste sich und fiel ab.
Der Mann erschauderte. Mit einem Mal wusste er, wer er war.
46
Reverend Andrew Hopper war in einem anderen Teil des Hotels im stillen Gebet versunken. Die Kälte, die ihn umfing, spürte er nicht, und weder störte sie ihn noch konnte sie ihm etwas anhaben.
Er sorgte sich um die Seele des ungeborenen Kindes. Immer wenn er tief in den Strudel seines Glauben eintauchte (so hatte es Reverend James Mullard genannt, der lange Jahre sein Lehrmeister gewesen war) und sich mit Gott verbunden fühlte, dann glaubte der Reverend, die Anwesenheit der ungeborenen Präsenz spüren zu können.
Er war nicht nur ein Priester. Laut sprach er dies nicht aus, aus Angst, von seiner Gemeinde verachtet zu werden, aber insgeheim beanspruchte er für sich die Gabe des Zweiten Gesichts. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er sich dafür schämen wollte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich für unwürdig gehalten, mit einer Gabe, die ihm Visionen schickte, das Priesteramt auszuüben.
Die einzigen Visionen, die ein Priester haben sollte, sind die von Gott, so hätte Reverend Mullard vielleicht geantwortet, in seinem trockenen Tonfall, der an brechendes, vertrocknetes Holz erinnerte. Hüte dich vor den anderen! Früher hätte er ihm Recht gegeben.
Aber heute, in eben dieser Minute war Andrew Hopper froh, sehen zu können, was er sah. Er bat seinen Gott um Verzeihung - Gott antwortete nicht.
Aber die Visionen kamen.
Er sah den Tod. Undeutlich, wie durch einen Nebelschleier hindurch, konnte er erkennen, wie Schnee durch die Eingangshalle des Larches wehte. Er sah den Tod mitten unter ihnen. Eine Leiche lag mitten auf einem Flur, aber es war unmöglich zu erkennen, wer es war. Aber es blieb noch Zeit. Wenn es ihnen gelang, zu entkommen, würden sie sich retten können.
Wenn.
Keine Vision war unabänderlich. Es waren die Entscheidungen jedes Einzelnen, die am Ende einen Unterschied bewirkten, zwischen dem was geschehen sollte und dem, was tatsächlich geschah.
Hoffnung. Vielleicht bestand noch Hoffnung.
Reverend Hopper spürte nicht die Kälte, er spürte auch nicht die wachsende Leere in seinem Magen, spürte nicht, dass er seit Tagen nichts mehr gegessen hatte.
Reiß dich zusammen! Allzu leicht drohten seine Gedanken abzuschweifen. Allzu verlockend war es, die Blicke auf jene Frau zu werfen, die der, die er begehrte, so ähnlich sah,
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