Der Pakt
finden, werde ich auf der Stelle hingerichtet) meine Eltern erreicht. Mein Vater Friedrich Zahler arbeitet beim Hafenamt in Bremerhaven, und meine Mutter Hannah Zahler ist Hebamme am Universitätskrankenhaus Bremen. Ich möchte Ihnen beiden sagen, wie sehr ich sie liebe und dass sie alle Hoffnung aufgeben sollen, mich je wieder zu sehen. Der Tod ist die einzige Möglichkeit, dieser Hölle zu entkommen.
Die Versuche, Kriegsgefangene aus Stalingrad herauszu-schaffen, begannen schon kurz nach unserer Kapitulation, sobald die Russen genug davon hatten, uns zu prügeln. Doch fast alle Transportmittel waren für die Nachschublieferungen an 377
die Front bei Rostow requiriert. So mussten die meisten von uns zu dem Lager marschieren, in dem wir jetzt inhaftiert sind.
Manche wurden in Viehwaggons gesperrt, um auf eine Dampflok zu warten, die nie kam. Als man nach einer Woche die Waggons wieder öffnete, stellte man fest, dass sämtliche Männer darinnen, rund 3000 Offiziere und Mannschaften, tot waren. Doch noch Tausende weiterer Männer starben an Typhus, Ruhr, Erfrierungen und Verwundungen aus der Schlacht, noch ehe sie das provisorische Gefangenenlager in Stalingrad verlassen konnten. Rückblickend betrachtet, hatten sie Glück.
Der Marsch zu dem Lager, das unser Bestimmungsort war, dauerte fünf Tage. Wir marschierten bei jedem Wetter, ohne Essen, ohne Trinken, ohne irgendein Obdach zwischendurch.
Die, die nicht mehr mitkamen, wurden erschossen oder totgeschlagen oder manchmal auch einfach nur entkleidet und dem Kältetod überlassen. Viele tausend Mann starben auf dem Marsch hierher. Und vielleicht hatten auch sie Glück.
Dies ist das größte russische Kriegsgefangenenlager – Lager 108 in Beketowka. Es ist das, was die Russen ein Katorga- Lager
nennen. Das bedeutet Schwerstarbeit, geringe Rationen und keinerlei medizinische Hilfe außer der, die wir uns gegenseitig leisten können, was sehr wenig ist. Das Lager war früher mal eine Schule, aber es ist schwer vorstellbar, dass an einem solchen Ort je Kinder unterrichtet werden konnten. Die Schule wurde in der Schlacht um Stalingrad teilweise zerstört, was heißt, es gibt weder Fenster noch Türen oder Betten. Es gibt kein Dach mehr und keinerlei Mobiliar. Alles, was aus Holz war, haben die Soldaten der Roten Armee längst verheizt. Das einzige Brennmaterial, das wir noch haben, sind unsere eigenen Exkremente. Wir schlafen auf dem Boden, ohne Decken, dicht aneinander gedrängt, um uns bei Temperaturen von bis zu minus 35 Grad gegenseitig ein wenig zu wärmen.
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Als wir hier ankamen, gab es weder Nahrungsmittel noch Wasser. Viele Männer starben, weil sie Schnee aßen. Nach zwei Tagen gab man uns eine Art wässrige Kleiebrühe, die ein Pferd oder ein Hund verschmäht hätte. Auch jetzt noch, Monate später, hat keiner von uns mehr zu essen als ein paar Brocken Brot täglich – wenn man es denn Brot nennen kann: Das Zeug enthält mehr Dreck als die Stiefelsohlen eines Straßenbauarbeiters. Manchmal kochen wir als besonderes Festmahl Kartoffelschalen zu einer Suppe aus. Sooft wir können, rauchen wir den Staub vom Fußboden – eine russische Lösung für das Problem des Tabakmangels, die sie
»Zusammengekratztes« nennen. Jeden Morgen, wenn wir uns vom kalten Boden hochrappeln, müssen wir feststellen, dass in der Nacht mindestens fünfzig von uns gestorben sind. Eine Woche nach meiner Ankunft hier fand ich am Morgen Feldwebel Eisenhauer, einen Mann, der mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte, tot am Boden festgefroren und kaum noch zu erkennen, da sich in der kurzen Zeit, bis die Toten vor Kälte versteinern, die Ratten an ihnen gütlich tun. Aber die Ratten sind nicht die Einzigen, die Menschenfleisch fressen. Es kommt vor, dass Leichen verschwinden und gekocht und gegessen werden. Die Kannibalen unter uns sind an ihrer etwas gesünderen Gesichtsfarbe zu erkennen und werden von den anderen gemieden. Ansonsten beginnt jeder Tag damit, dass Tote aus unserem Schlafgebäude geschleift werden. Die Russen treiben ihnen, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht nur tot stellen, mit dem Hammer einen spitzen Metallpflock in den Schädel. Dann werden die Toten entkleidet, eventuelle Goldfüllungen mit einer Zange aus dem Mund gebrochen und die Körper auf die Stjena gelegt – so nennen die Russen den Wall, den sie aus den nackten Leichen unserer Kameraden errichtet haben.
Unsere Bewacher sind keine Soldaten – die werden alle an der Front gebraucht
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