Der Pakt
nicht, dass ich es lebend dorthin schaffen werde.
Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber es geht nicht, weil ich fürchte, entdeckt zu werden. Doch über diesen schrecklichen Ort ließe sich endlos berichten. Wer auch immer dieses liest –
ich bitte Sie, bei Gelegenheit ein Gebet für die zu sprechen, die, wie ich, hier sterben, und auch für jene Unglücklicheren, die am Leben bleiben. Gott segne Sie, lieber Leser. Und Gott segne das Vaterland. Ich bitte alle um Verzeihung, denen ich Unrecht getan habe. Die, die gemeint sind, werden es wissen. Ich weiß nicht, welches Datum wir haben, aber ich glaube, es muss Ende September 1943 sein.
Heinrich Zahler
Leutnant, 76. Infanterie, Lager Nummer 108, Beketowka Ich trat auf den Hotelbalkon hinaus und hielt mein Gesicht in die Sonne, um zu spüren, dass ich noch lebte. Inmitten des Gewirrs von Dächern und Minaretten wiegten sich hohe, schlanke Palmen im leichten, warmen Wind, der vom Nil her kam. Unten auf der Straße lärmte der Kairoer Verkehr wie immer. Ich atmete tief ein, roch Benzin, Schweiß, türkischen Kaffee, Pferdemist und Zigaretten. Es roch gut. Beketowka schien eine Million Meilen weit weg, auf einem anderen Planeten. Ich konnte mir kein besseres Mittel als dieses Kairo mit seinen 382
stinkenden Abwasserkanälen und seinen obszönen Postkarten vorstellen, um Lager 108 zu vergessen.
Das Klügste wäre gewesen, die Finger davon zu lassen. Sich nicht persönlich in die Sache einzumischen. Nur dass ich mich schon eingemischt hatte. Anstatt also das Klügste zu tun und Reichleitner zu belügen – ihm zu sagen, ich hätte die Akte FDR
gegeben –, beschloss ich, dass ich mit jemandem über das reden musste, was ich gelesen hatte. Und dafür fiel mir kein Besserer ein als der Major selbst. Doch zuerst ging ich hinunter in die Long Bar und fragte den Chefbarkeeper, ob er eine Flasche Korn habe. Er hatte sogar mehrere, denn bei den Briten war deutscher Schnaps nicht gefragt. Nicht, weil er ihnen nicht schmeckte, sondern weil sie keine Ahnung hatten, dass so etwas überhaupt existierte. Ich gab dem Mann ein paar Pfund und bat ihn, mir eine Flasche und zwei Schnapsgläser zu bringen. Ich packte alles in meine Aktentasche und ließ mich von Coogan wieder nach Grey Pillars fahren.
Major Reichleitner arbeitete an den Funksprüchen. Er wirkte etwas müde. Als er die Flasche sah, bekam er große Augen.
»Mein Gott, Fürst Bismarck«, sagte er. »Nicht zu glauben.«
Ich holte die beiden Gläser heraus, stellte sie auf den Tisch und schenkte sie randvoll. Wir prosteten uns stumm zu und leerten sie. Der deutsche Korn glitt in mein Inneres, als ob er dorthin gehörte. Ich setzte mich aufs Bett und zündete uns Zigaretten an.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Major.«
»Ach? Wieso das?«
»Als ich Ihnen vorhin sagte, ich hätte die Beketowka-Akte gelesen, war das gelogen. Ich hatte sie gar nicht gelesen. Aber jetzt habe ich’s getan.«
»Verstehe«, sagte Reichleitner. Er schien etwas unsicher, denn er hatte keine Ahnung, wohin dieses Gespräch steuerte. Ich wusste es selbst nicht genau. Ich füllte sein Glas erneut. Diesmal 383
schnupperte er ausgiebig daran, ehe er den Schnaps hinunterkippte.
Ich zog die Beketowka-Akte aus meiner Tasche und legte sie neben die Kornflasche auf den Tisch.
»Mein Vater ist ein deutscher Jude«, erklärte ich Reichleitner.
»Geboren in Berlin, aber in den Vereinigten Staaten aufgewachsen und zur Schule gegangen. Meine Mutter stammt aus einer alten deutschen Familie. Ihr Vater war ein Baron von Dorff, der ebenfalls in die Staaten ging, um dort sein Glück zu machen. Oder zumindest ein Vermögen. Er ließ eine Schwester und zwei Brüder in Deutschland zurück. Einer der Brüder hatte einen Sohn, Friedrich von Dorff. Der Vetter meiner Mutter. Wir verbrachten ein Weihnachtsfest alle zusammen in Berlin. Vor vielen Jahren.
Bei Kriegsbeginn ging Friedrichs Sohn Helmut zur Kavallerie.
Sechste Panzerarmee, sechzehnte Division. Unter General Hube.
Der Rammbock des Panzerkorps. Im August 1942 überschritten sie den Don und rollten gen Stalingrad. Ich dachte, er wäre dort gefallen. Bis heute Nachmittag, als ich Heinrich Zahlers Bericht über das Leben in Lager 108 in Beketowka las. Wenn man das Leben nennen kann.«
Ich nahm die entsprechende Seite heraus und las laut vor.
»Der Sohn des Vetters Ihrer Mutter«, sagte Reichleitner.
Ich nickte. »Ich weiß, ein Vetter zweiten Grades ist vielleicht kein ausreichender Grund,
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