Der Pakt
gigantische Messinglampe.
Den Tisch umgaben zwei Sitzreihen, innen fünfzehn prunkvolle Mahagonistühle, bezogen mit Seide in persischem Dekor, und außen zwölf kleinere Stühle, auf denen jeweils ein Notizblock und ein Stift lagen. Im Raum selbst wachten zehn NKWD-Leute, die in gleichmäßigen Abständen an der mit Teppichen behängten Wand standen, so stoisch und reglos wie Ritterrüstungen. Roosevelts Secret-Service-Agenten postierten sich zwischen den NKWD-Leuten, ebenfalls an der Wand.
Sechzig Sekunden später nahm ich das alles gar nicht mehr wahr. Sechzig Sekunden später sah ich weder Stalin noch Molotow, seinen Außenkommissar, noch Berija oder Woroschilow, den Feldmarschall der Roten Armee. Sechzig Sekunden später starrte ich nur mit offenem Mund auf den Mann, der durch eine gegenüberliegende Tür trat. Ich hätte es nicht gemerkt, wenn Betty Grable sich mir auf den Schoß gesetzt und bis auf die Knöchelriemchenpumps entkleidet hätte.
In jeder anderen Situation hätte ich es für einen Scherz gehalten. Nur dass der Mann jetzt mit ausgestreckter Hand auf Roosevelt zukam und dabei lächelte, als freute es ihn wirklich, den Präsidenten eines Landes zu treffen, dem er persönlich den Krieg erklärt hatte.
Der Mann war Hitler.
8.30 UHR
»Großer Gott«, murmelte ich.
485
»Reißen Sie sich zusammen«, flüsterte Roosevelt und schüttelte dann die ihm dargebotene Hand. Fast schon automatisch begann ich Hitlers erste Worte zu übersetzen. Jetzt war mir alles klar: Warum Harry Hopkins und Donovan so sicher gewesen waren, dass die Deutschen keinen Anschlag auf die Großen Drei planten, beispielsweise, und warum Churchill und vermutlich auch Marshall und Arnold »schmollend in ihren Zelten hockten«.
Nicht zuletzt verstand ich jetzt auch, warum Roosevelt mich überhaupt mitgenommen hatte: Natürlich brauchte er jemanden, der fließend Deutsch sprach und sich bereits als das erwiesen hatte, was der Präsident einen »Realpolitiker« nannte.
Jemanden, der bereit war, um eines höheren Zwecks willen den Mund zu halten. Und auch dieser »höhere Zweck« war jetzt nur allzu offenkundig: Roosevelt und Stalin wollten mit Hitler Friedensverhandlungen führen.
»Der britische Premierminister ist nicht hier«, sagte Hitler, dessen Stimme viel weicher war, als ich es aus den deutschen Rundfunkansprachen gewohnt war. »Habe ich davon auszugehen, dass er nicht teilnehmen wird?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Roosevelt. »Für den Moment jedenfalls.«
»Schade«, sagte Hitler. »Ich hätte ihn gern kennen gelernt.«
»Dazu wird vielleicht noch Gelegenheit sein, Herr Hitler«, sagte Roosevelt. »Hoffen wir es zumindest.«
Hitler sah sich um, während sein Dolmetscher hinter ihm auftauchte, um ihm zu übersetzen, was der Präsident gesagt hatte. Das war für mich die Gelegenheit, mich auch noch einmal kurz umzublicken und zu sehen, wie Molotow Ribbentrop die Hand schüttelte, Stalin über Bohlen mit Harry Hopkins sprach und Himmler, umgeben von diversen SS-Leuten in Zivil, so breit lächelte, als entzückte ihn der relativ freundliche Beginn des Ganzen wirklich.
486
»Ihr Mr. Cordell Hull hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass es ihm soweit gut geht«, sagte Hitler. »Und dass er gut betreut wird. Und ebenso der russische Außenhandelskom-missar, Herr Mikojan.«
Ich übersetzte. Als Roosevelt mein Stirnrunzeln sah, war er so freundlich, mir eine kurze Erklärung zu den Worten des Führers zu geben. »Cordell Hull ist in Berlin«, sagte er. »Als Unterpfand für die sichere Heimkehr des Führers.«
Plötzlich ergab alles einen Sinn – auch die Tatsache, dass der Außenminister nicht zu der Konferenz geladen worden war.
Hitler ging zu Stalin, der ein Stück kleiner war als er und etwas von einem kleinen, dicken Bären hatte. Alle Fotos, die ich von Stalin gesehen hatte, hatten den Eindruck eines wesentlich größeren Mannes erweckt. Sie mussten wohl von schräg unten aufgenommen worden sein. Als Stalin sich eine Zigarette anzündete, bemerkte ich, dass sein linker Arm lahm und leicht verkrüppelt war, genau wie bei Kaiser Wilhelm.
»Geht es, Willard?«, fragte Roosevelt und bezog sich dabei wohl vor allem auf meine jüdische Herkunft.
»Ja, Mr. President, kein Problem.«
Himmler ergriff die Gelegenheit, kam straff heranmarschiert, neigte, noch immer lächelnd, kurz den Kopf, entspannte sich dann etwas und reichte dem Präsidenten die Hand. Er trug einen Anzug, ein Seidenhemd mit Seidenschlips und ein
Weitere Kostenlose Bücher