Der Pakt
bereitwillig und in solchem Umfang getötet hatten, durfte man nicht unterschätzen.
Männer wie Martin Sandberger, Schellenbergs Stellvertreter, der kürzlich nach Berlin zurückgekehrt war, nachdem die von 69
ihm befehligte Einsatzgruppe in Estland über 65000 Juden ermordet hatte. Oder Karl Tschierschky, der Chef der Gruppe C
des Amts VI, der für die Türkei, den Iran und Afghanistan zuständig war und eine ähnlich blutige Vorgeschichte in Riga aufzuweisen hatte. Dann war da Hauptsturmführer Horst Janssen, dessen Sonderkommando in Kiew 33000 Juden exekutiert hatte. Das Problem war einfach, dass es in Schellenbergs Abteilung wie in so ziemlich jedem anderen Amt des Reichssicherheitshauptamts von Killern nur so wimmelte, die ebenso bedenkenlos einen Deutschen umbringen würden, wie sie Juden umgebracht hatten. So war beispielsweise Albert Rapp, ein weiterer Einsatzgruppenveteran und Tschierschkys Vorgänger in der Türkei-Abteilung, einem Unfall mit Fahrerflucht zum Opfer gefallen. Es wurde allgemein angenommen, dass Hauptsturmführer Reichert, ebenfalls in Amt VI tätig, der flüchtige Todesfahrer gewesen war. Reichert war dahinter gekommen, dass seine Frau ein Verhältnis mit Rapp hatte. Zwar sah der milchgesichtige Hauptsturmführer Reichert so gar nicht wie ein Mörder aus, aber das galt im Grunde für alle anderen auch.
Schellenberg selbst war dem Dienst in einem von Heydrichs Mordkommandos nur durch die frühe Ernennung zum Chef der Spionageabwehr Inland des SD im September 1939 entgangen.
Hätte er je so viele unschuldige Menschen so leichten Herzens ermorden können? Schellenberg stellte sich diese Frage nicht oft, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er darauf keine Antwort wusste. Er hing der Auffassung an, dass man nie wusste, zu welch schändlichen Dingen man fähig war, bis man in die Situation kam, sie tun zu müssen.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war Schellenberg kein schießwütiger Mensch. Doch aus Sorge um seine Sicherheit unter so vielen verbrieften Mördern hatte er stets eine Mauser im Schulterhalfter, eine C96 in der Aktenmappe, eine Schmeisser MP40 unterm Fahrersitz seines 70
Wagens und zwei MP40 in seinem Mahagonischreibtisch – in jeder Schublade eine. Doch darin erschöpften sich seine Sicherheitsvorkehrungen noch nicht. Unter dem blauen Stein seines goldenen Siegelrings verbarg sich eine Zyanidkapsel, und die Fenster seines Büros im obersten Stock überzog ein elektrisch geladenes Drahtgeflecht, das bei jedwedem gewaltsamen Eindringen Alarm auslösen würde.
Während Schellenberg an seinem Schreibtisch wartete, dass seine Untergebenen zu der Besprechung erschienen, drehte er sich zu einem Ablagetisch und drückte den Knopf, der die versteckten Mikrophone im Raum aktivierte. Dann betätigte er den Schalter, der das grüne Licht draußen über seiner Tür aufleuchten ließ. Das signalisierte, dass man eintreten durfte.
Als endlich alle versammelt waren und draußen das rote Licht brannte, umriss Schellenberg in groben Zügen das Unternehmen Großer Sprung und bat um Kommentare.
Obersturmbannführer Martin Sandberger machte den Anfang.
Er sprach wie ein Jurist, wohl überlegt und ein wenig pedantisch, was auch kein Wunder war, da er in Tübingen Jura studiert hatte. Schellenberg staunte immer wieder, wie viele Juristen am unmittelbaren Genozid beteiligt waren. Dass jemand in der einen Woche Rechtsphilosophie lehren und in der nächsten estnische Juden exekutieren konnte, war in seinen Augen ein Beweis dafür, wie dünn der Firnis der menschlichen Zivilisation war. Der dreiunddreißigjährige Sandberger allerdings, mit seinen Nussknackerkiefern, den wulstigen Lippen, der breiten Nase und der niedrigen Stirn, wirkte eher wie ein Preisboxer als wie ein Jurist.
»Gestern«, sagte Sandberger, »war ich auf Ihre Anweisung in Friedenthal, wo ich SS-Sturmbannführer von Holten-Pflug getroffen habe.« Sandberger deutete mit dem Kinn auf einen jungen, aristokratisch aussehenden SS-Offizier, der ihm gegenübersaß.
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Schellenberg betrachtete den Sturmbannführer fast schon amüsiert – Adlige erkannte er auf den ersten Blick. Es war der Uniformschnitt, der sie verriet. Die meisten Offiziere bezogen ihre Uniformen von den SS-Bekleidungswerken, einer Textilfabrik in einem Sonderlager, wo jüdische Schneider eingesetzt wurden, doch von Holten-Pflugs Uniform wirkte maßgeschneidert. Schellenberg vermutete, dass sie von Wilhelm Holters in der Tauentzienstraße stammte.
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