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Der Pakt

Der Pakt

Titel: Der Pakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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leichter gewesen war als der erste.
    Mit zitternden Händen zündete sich Schellenberg eine Zigarette an und überließ sich der toxischen Alkaloidwirkung des Nikotins. Als sich seine Nerven einigermaßen stabilisiert hatten, ging er zu seinem Wagen zurück und nahm einen großen 92

    Schluck Schnaps aus dem silbernen, wilhelminischen Taschenfläschchen, das er immer im Handschuhfach liegen hatte. Dann fuhr er langsam in die Berkaer Straße zurück.
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    SONNTAG, 7. OKTOBER 1943
    –––––––––––––
    LONDON
    MEINE REISE VON NEW YORK nach London hätte selbst Odysseus zum Aspirin greifen lassen. Acht Stunden nach dem Abflug von La Guardia am Freitag, dem 5., um acht Uhr morgens, war ich gerade mal bis nach Botwood, Neufundland, gelangt, wo das Coronado-Flugboot der U.S. Navy zum Auftanken zwischenlandete. Um 18 Uhr 30 war die viermotorige Maschine wieder in der Luft und auf dem Weg ostwärts über den Atlantik wie eine überdimensionale Gans, die zum Überwintern in die falsche Richtung flog.
    Es waren noch drei weitere Passagiere an Bord: Ein britischer General namens Turner, Joel Beinart, ein Air-Corps-Colonel aus Albuquerque, und John Woolridge, ein Fregattenkapitän aus Delaware, alle drei wortkarge Männer, deren ganzes Verhalten zu signalisieren schien, dass nicht nur die Wände Ohren hatten, sondern auch der Rumpf eines Transatlantikflugzeugs. Nicht dass mir selbst sonderlich gesprächig zumute gewesen wäre. Ich studierte die Katyn-Akten, die mir der Präsident gegeben hatte, und das erstickte jede Konversationslaune im Keim.
    Das Wehrmachtsdossier war über Allan Dulles vom OSS-Büro in Bern nach Washington gelangt. Es war von allen Akten die detaillierteste, und ich fragte mich, wie es in Dulles’ Hände gelangt war. Im Geist sah ich einen dieser blonden, blauäugigen Übermenschen von der deutschen Botschaft in Bern einfach eines Tages im OSS-Büro aufkreuzen und die Akte dem Pförtner übergeben, als handle es sich um die Schweizer Zeitungen vom Tage. Oder hatte sich Dulles mit seinem Kollegen von der Abwehr auf ein Gläschen Glühwein in der Bar des Hotels Schweizerhof getroffen? Wenn eins dieser beiden 94

    Szenarien zutraf, implizierte das doch einen Grad an Kooperation zwischen Dulles und dem deutschen Geheimdienst, der mich verblüffte.
    Eine erstaunliche Anzahl Fotos ergänzte die Erkenntnisse des so genannten Internationalen Komitees. Dieser von den Deutschen zusammengestellten Kommission hatten unter anderem Ljudevit Jurak, Professor für Pathologie und Anatomie an der Universität Zagreb, und mehrere gefangene alliierte Offiziere angehört. Ganz offensichtlich hofften die Nazis, das Massaker dafür nutzen zu können, einen Keil zwischen die Sowjetunion und die Westalliierten zu treiben. Und was auch immer passieren würde, es war tatsächlich schwer vorstellbar, wie die Briten oder die Amerikaner nach dem Krieg die Polen auffordern sollten, mit den Russen in Frieden zu leben. Das wäre etwa so, als ob der polnische Oberrabbiner Hitler und Himmler auf ein Gläschen Passahwein und ein paar Runden Whist herüberbitten würde.
    Katyn war der systematische Versuch der Russen gewesen, die Führung der polnischen Unabhängigkeitsbewegung zu liquidieren. Und mir war klar, dass Stalin genau wie Hitler Polen zu einem unterjochten Teil seines Imperiums machen wollte. Was noch wichtiger war: Er hatte sich an den Polen für die Niederlage rächen wollen, die sie im Juli 1920 der Roten Armee und einem ihrer Kommandeure – Stalin selbst – in der Schlacht bei Lwow beigebracht hatten.
    Ich hatte den Polenhass der Russen selbst miterlebt, unter Umständen, die für mich auch jetzt, fünf Jahre später, noch immer belastend waren. Nein, »belastend« war nicht ganz das richtige Wort, »potenziell gefährlich« traf es besser. Eine Leiche in meinem OSS-Keller zu haben, war misslich genug, gleich zwei zu haben, war ein ernstes Problem.
    Die Coronado sackte jäh ab, als wir in Turbulenzen gerieten, und der Fregattenkapitän stöhnte.
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    »Machen Sie sich nichts draus«, sagte der USAAC-Colonel.
    »Versuchen Sie, es nicht als Luftlöcher zu sehen, sondern als Lufttaschen, die die Maschine auffangen.«
    »Möchte jemand einen Drink?«, fragte der britische General.
    Er trug Reithosen, hohe Schnallenreitstiefel und einen dicken, gegürteten Uniformrock, der aussah, als sei er vor 1900
    geschneidert. Unter der Adlernase klammerte sich eine schwarze Bärenraupe an seine Oberlippe. Mit feinen,

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