Der Paradies-Trick (Kindle Single) (German Edition)
den Boden gestellt. Sie stieg hinauf und wandte sich der Menge zu, die ihr zujubelte und applaudierte. Sie wartete mit einem Lächeln, das gleichzeitig strahlend und seltsam traurig war, und der Jubel verdoppelte sich. Sie besaß nicht nur große Schönheit, was selbst aus der Entfernung unübersehbar war, sie wusste offenbar auch, wie man eine Menschenmenge dirigiert, ihre Leidenschaften widerspiegelt und sie auf diese Weise verstärkt und zurückwirft.
Delilah hob die Nikon, zoomte heran und stellte die Schärfe ein. In der Nahaufnahme sah Fatima noch umwerfender aus. Sie hatte volle, sinnliche Lippen, makellose Haut mit einem Bernsteinton und Augen, die so dunkel waren wie ihre Haare. Ihr kräftiges Kinn unterstrich ihre Weiblichkeit noch. Sie sah jünger aus als die dreißig Jahre, die in ihrer Akte standen, besaß aber unglaublich viel Haltung und Stil – für Delilah Anzeichen von beachtlicher Lebenserfahrung –, eine Art Gegengewicht für ihre ansonsten sehr jugendliche Erscheinung. Der einzige Makel waren ihre dunklen Augenringe. Sie war ansonsten perfekt geschminkt, und wenn die Augenringe trotz eines erstklassigen Concealers noch sichtbar waren, mussten sie ziemlich ausgeprägt sein. Anzeichen für zu viel Kaffeegenuss? Schlaflosigkeit? Schlechtes Gewissen?
Delilah musste zugeben, dass die Frau nicht aussah wie eine Terroristin. Aber ihr war klar, dass es ein gefährlicher Irrtum war, sich eine bestimmte Vorstellung davon zu machen, wie ein Terrorist aussehen sollte. Denken Sie immer daran , hatte man ihr im Unterricht über die Psychologie des Terrorismus eingeschärft, das sind keine Monster. Es sind Menschen. Sie dürfen sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild ebenso wenig täuschen lassen wie von der glatten Fassade eines Serienkillers. Schließlich war Eichmann ein bebrillter Buchhalter mit schütteren Haaren .
Nach ein paar Sekunden hob Fatima das Megafon an die Lippen. Das Publikum verstummte sofort.
»Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister«, begann sie, und das Megafon trug ihre Stimme bis in die hintersten Reihen, »wenn eine von einer amerikanischen Drohne abgefeuerte Rakete ein Kind in einer Stammesgemeinschaft tötet, dann zieht der Vater gegen Sie in den Krieg. Daran ist nicht zu rütteln. Das hat nichts zu tun mit al-Qaida.«
Trotz der Verzerrung durch den Verstärker konnte Delilah hören, dass die Stimme feminin klang und der Ton selbstsicher. Der Akzent war internationales Englisch, irgendwo zwischen britischer Präzision und amerikanischer Monotonie.
»Mit diesen grausamen, feigen Waffen schaffen Sie sich Ihre eigenen Feinde. Feinde, deren Antrieb keine Ideologie ist, sondern das universelle, menschliche Gefühl der Verzweiflung und der Wunsch nach Rache. Und wenn Sie Beerdigungen und Rettungsaktionen bombardieren, vervielfältigen sie den Hass noch um ein Tausendfaches. Ja, unter den Toten mögen Militante sein, aber das unvermeidliche Sterben so vieler Unschuldiger schafft eine neue Generation von Anführern, die spontan aus wütender Vergeltung für diese brutalen Angriffe auf ihre Territorien, ihre Stämme, ihre Familien hervorgehen. Sie versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen, Herr Verteidigungsminister, und indem Sie das tun, erzeugen Sie einen Flächenbrand, der mit jedem Angriff, den Sie befehlen, heißer wütet und sich ausbreitet.«
Die Rhetorik war vielleicht ein wenig theatralisch, aber im Großen und Ganzen konnte Delilah nichts dagegen einwenden. Sie machte sich keine Illusionen darüber, wie viele Probleme ihres Landes und des Westens hausgemacht waren. Aber sie war keine Politikerin. Ihre Aufgabe bestand darin, zu verhindern, dass die Feuersbrunst noch weiter außer Kontrolle geriet, egal, wie sehr die Politiker sie schürten. Es war ein trostloser, undankbarer und letzten Endes vielleicht fruchtloser Job. Doch was sonst konnte sie tun – achselzuckend über die Möglichkeit hinweggehen, dass einer der Menschen, die Fatima beschrieb – wie gerechtfertigt seine Empörung auch sein mochte –, ein Aerosol mit Sarin in einem U-Bahnhof freisetzte, in einem Einkaufszentrum oder in einer Schule? Die Politiker stellten Menschen wie Delilah vor eine nie enden wollende Reihe von Faits accomplis. Aber vielleicht sorgten ja gerade Delilah und ihresgleichen dafür, dass sie so handeln konnten. Möglicherweise musste erst jemand wie sie kommen und den Politikern sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren, musste streiken, sich weigern, die Feuer zu löschen, damit sie
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