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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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sich wenden sollten. Manis Hand lag auf Ram Paris Schulter. Prabhjot Kaur nahm all ihre Willenskraft zusammen, drehte sich um und ging ins Haus zurück. In dem stickigen kleinen Zimmer rechts weinte ihre Mutter. Sie saß neben einem Charpai auf dem Boden, schluchzend, Arme und Kopf auf der Bettdecke. Es war ein leises, kindliches Schluchzen, nicht zornig, nicht empört, nur fassungslos. Prabhjot Kaur ging hinein und blieb neben ihr stehen. Sie spürte die leichte Erschütterung des Holzbettes an den Knien, und in ihrem Innern stieg Wut auf, ließ sie hart werden wie Stein und zugleich überfließen von hilflosem Mitleid. Graue Strähnen durchzogen das Haar ihrer Mutter, es war spröde und häßlich, am Hinterkopf eine fast kahle Stelle, die Haut darunter jung und glatt wie die eines Babys. Prabhjot Kaur schloß einen Moment die Augen, dann legte sie ihrer Mutter die Hand auf den Kopf. Mata-jis Körper krümmte sich und bewegte sich auf Prabhjot Kaur zu wie ein Tier, das sich blind anschmiegt, sie schlang die Arme um sie, und Prabhjot Kaur suchte Halt, tätschelte ihr sanft Schultern und Nacken und versuchte die Frau in ihrem Kummer zu trösten.

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    Die Toten begraben

    U m sieben wachte Sartaj auf. Ma saß schon am Eßtisch und las, mit einer dicken Bifokalbrille auf der Nase, die Zeitung, gewaschen und frisiert und in einem frischen weißen Salvarkamiz. Noch nie war es ihm gelungen, vor ihr aufzuwachen, und manchmal fragte er sich, ob sie überhaupt je schlief.
    »Setz dich«, sagte sie. Sie brachte ihm einen Teller und eine Tasse. Er schaute in die Zeitung: Der grenzüberschreitende Friedensprozeß kam in Gang, aber in Rajouri waren zweiundzwanzig Männer von Kashmiri-Kämpfern getötet worden, möglicherweise auch von ausländischen Söldnern. Die Kämpfer hatten auf einer Durchgangsstraße einen Linienbus gestoppt, die Hindu-Männer unter den Insassen in einer Reihe antreten lassen und mit AK-47-Gewehren auf sie geschossen. Einer hatte, unter den Leichen begraben, mit einer Kugel in der Leistengegend überlebt. Ein Foto zeigte die achtlos aufgereihten Leichen. Omelettduft stieg Sartaj in die Nase. Warum reihen wir sie immer auf? dachte er. Warum legen wir sie nicht im Kreis hin? Oder V-förmig? Wo immer es viele Opfer gab, wurden sie aufgereiht, als würde das Chaos, das entstand, wenn Metall lebendiges Fleisch zerriß, dadurch eingedämmt und unter Kontrolle gebracht. Sartaj hatte selbst schon schlaffe Körper über den Boden geschleift und in geordneten Reihen niedergelegt und sich dann besser gefühlt.
    »Diese Muslime werden uns nie in Ruhe lassen«, sagte Ma und stellte ein Omelett vor ihn hin. Es war so, wie er es mochte, locker und mit viel Chili, aber ohne Zwiebeln.
    »Das ist ein Krieg, Ma«, sagte Sartaj. »Es ist doch nicht so, daß alle Muslime Ungeheuer wären.«
    »Das hab ich auch nicht gesagt. Aber das verstehst du nicht.« Sie hatte ihre Brille abgenommen und rieb sie mit ihrem Dupatta blank. Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, verschlossen wie ein Fenster mit Stahlrollo. »Du kennst diese Leute nicht. Die sind anders als wir. Wir selbst werden sie auch nie in Ruhe lassen.«
    Sartaj wandte sich wieder seinem Omelett zu. Es war zwecklos, mit ihr zu diskutieren. Sie hatte ihre festen Meinungen, und am Ende würde sie kategorisch simple, aus ihrer Sicht unbestreitbare Behauptungen aufstellen und an ihnen festhalten wie an einem Anker. Jeder Versuch einer solchen Diskussion war ärgerlich und würde nur ihren Blutdruck in die Höhe treiben. Sartaj blätterte um und las einen langen Artikel über einen Paanvaala und seinen mächtigen Schnauzbart.
    Später, in der Stille unter den vielen Menschen im Gurudwara 252 , beobachtete er seine Mutter. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, eine Haltung, die ihm immer sehr mädchenhaft erschienen war. Als sich der Chor der Stimmen in einem Kirtan 345 erhob, hing sie ihren Erinnerungen nach. Er kannte diesen ins Leere gerichteten, weichen Blick unter halbgeschlossenen Lidern, diesen Rückzug nach innen. Sie war sehr klein, sehr zerbrechlich, und als er ihre schmalen Handgelenke betrachtete, überkam ihn Furcht, und wieder dachte er, daß er sie zu sich nehmen sollte. Wie lange haben wir sie, unsere Eltern, dachte er. Wie lange? Doch sie war äußerst stur und klammerte sich an ihr Haus wie ein Soldat an den Krieg. Ich bin hier zu Hause, hatte sie gesagt, als sie das letzte Mal darüber gesprochen hatten. Ich

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