Der Pate von Bombay
Hals floß dunkles Blut herab. Und von Iqbal-virjis Hand, nicht weit von Prabhjot Kaurs Gesicht entfernt, hing ein Kirpan 344 herab, nein, ein Schwert.
»Tötet sie«, wiederholte Mata-ji. Manis Gesicht war im Dunkeln nicht auszumachen. Prabhjot Kaur sah nur ihre unverkennbaren schmalen Schultern und ihre Arme, die Mata-ji hielten. Prabhjot Kaur trat von Iqbal-virji zurück, hob den Kopf und bemerkte, daß sein Pagdi 465 weg war und seine Haare sich in die Stirn rollten. Sein Mund zitterte. Er sah sie an und rang um Fassung, biß sich auf die Unterlippe, um das Zittern zu stoppen. Ihre Angst fühlte sich plötzlich anders an, wie ein endloser Sturz aus großer Höhe, aber selbst in diesem Moment noch spürte sie, wie peinlich ihrem Bruder sein Zustand war. Sie sah wieder zu Boden und wartete. Sie wartete auf den Tod, auf einen von ihrer Mutter befohlenen Khun.
»Ich fahre«, ließ sich Papa-ji vernehmen. »Ich kann Auto fahren.«
Natürlich, dachte Prabhjot Kaur, er war ja früher Vertreter. Der Wagen sprang schon beim ersten Versuch an, aber sie mußten ihn erst ein Stück zurückschieben, weg von dem Rinnstein, in dem das rechte Vorderrad festsaß. Prabhjot Kaur drehte sich auf der dunklen Straße, drehte und drehte sich, sie konnte nicht stillstehen und schaute in alle Richtungen, voll Angst vor dem, was hinter ihr war. Dann saßen alle wieder im Auto, und diesmal machte sich Prabhjot Kaur vor dem Vordersitz so klein wie nur irgend möglich. Sie stieß die Füße in das Bündel vor ihr, und als es ein wenig nachgab, zwängte sie Beine und Hüften in die Mulde. Sie wünschte, sie hätte unter das Bündel kriechen können. Sie wünschte, es hätte unter dem Sitz einen Hohlraum gegeben, in den sie hätte hineinschlüpfen können. Sie wünschte sich ein dunkles kleines Loch, in das nichts und niemand hinein konnte, das sie vor Mata-jis grauenvollem, krächzendem Schluchzen schützte, ihrem »Vaheguru, Vaheguru«, ihrem Japji sahib 285 , das durch das Scheppern des Wagens und ihr eigenes lautes Atmen drang. Verzweifelt hielt sie sich Ohren zu.
Sie sah nichts. Sie hielt die Augen geschlossen. Doch nun veränderte sich das Geräusch der Straße, und sie wußte, daß sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Bei Tagesanbruch tauchten an einem Brunnen vor ihnen zwei Lastwagen mit Soldaten auf. Alok-virji bekam Angst, aber Papa-ji sagte, sie hätten keine Wahl. Langsam fuhren sie auf die Soldaten zu, und unmittelbar bevor sie hielten, öffnete Prabhjot Kaur die Augen. Der Himmel war von einem unbestimmten Grau, einem Farbton zwischen Schwarz und Weiß. Noch nie war sie die ganze Nacht wach gewesen.
»Das sind Muslime«, hörte sie Mata-ji sagen. So war es, und sie wurden von einem Major namens Sajid Farooq befehligt. Prabhjot Kaur las den Namen auf seiner Brusttasche, als sie zitternd auf dem Charpai eines Dorfbewohners saß. An diesem Morgen nahm Sajid Farooq ihr Auto zwischen die beiden Laster, und bis zum Nachmittag hatte sich eine Karawane aus einunddreißig Fahrzeugen gebildet. Am nächsten Morgen sah Prabhjot Kaur einen Strich, einen Bach, einen Strom von Menschen, der bis zum Horizont reichte. Männer, Frauen und Kinder wanderten schweigend in dieselbe Richtung wie Sajid Farooqs Lastwagen und all die Autos. Sie trotteten langsam dahin, und die Lastwagen und Autos überholten jeden einzelnen von ihnen mühelos, brauchten aber drei Stunden, bis sie an allen vorbei waren. Am Abend trafen sie auf andere Soldaten in den gleichen Uniformen, mit den gleichen Lastern, doch diesmal waren es Hindus, die einen Konvoi Muslime eskortierten. Alok-virji meinte, sie seien aus Madras. Zum ersten Mal seit zwei Tagen hörte Prabhjot Kaur ihn wieder sprechen. Seine Augen waren gerötet, und von Zeit zu Zeit liefen ihm Tränen übers Gesicht, die er nicht zu bemerken schien. Sajid Farooq übernahm den Konvoi der Autos und Lastwagen, die mit den Madrasis gekommen waren, postierte seine Soldaten vor und hinter ihnen und fuhr davon. Prabhjot Kaur sah die Muslime vorbeifahren, in Richtung Pakistan. Die Madrasis ihrerseits brachten die Sikhs und Hindus nach Indien. Die Fahrt verlief ruhig, und nach zwei Tagen waren sie in Amritsar.
Sie lebten dort in einer Stadt aus dreitausend Zelten. Die Einwohner Amritsars brachten den Flüchtlingen Kleider und Lebensmittel, und ein Politiker schritt über die Trampelpfade zwischen den Zeltwänden. Als Prabhjot Kaur die Fotografen im Kielwasser dieses Vertreters der Kongreßpartei entdeckte,
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