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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Mutter, ihren Brüdern und ihrer Schwester.
    Endlich erreichten sie Delhi. Mata-ji holte etwas von dem Schmuck, den sie bei sich trug, unter ihren Kleidern hervor, und diesmal fuhren sie mit dem Zug. Die Brüder brachten den Rest der Familie zu Gunjan Singh Parvana, der zwar kein Verwandter, aber der Sohn eines Mannes aus dem Dorf Khenchi war. Es gab da eine alte Geschichte - Papa-jis Vater hatte Gunjan Singh Parvanas Vater, einen Polizisten, vor fristloser Entlassung und Arbeitslosigkeit bewahrt -, und nun nahm er sie bei sich auf. Sie bekamen zwei winzige Zimmer mit einer Veranda an der Rückseite des Hauses. Die Brüder fuhren an die neue Grenze und weiter in ein fremdes Land. Sie wollten nicht weg, doch Mata-ji sagte nun zum ersten Mal: »Geht, sucht meine Tochter.« Prabhjot Kaur hörte es, während sie sich schlafend stellte. Zwischen den älteren Familienmitgliedern fanden jetzt häufig Diskussionen statt, von denen sie und Mani ausgeschlossen blieben. Mani schlief wirklich und wimmerte sogar leise im Schlaf, Prabhjot Kaur aber hielt sich Abend für Abend wach. Sie wollte wissen, sie mußte wissen. Wach zu bleiben wurde immer leichter. Es gab Techniken, die verhinderten, daß man in sich selbst hineinglitt, ohne es zu merken, daß man wie eine Feder in den luftleeren Raum des Schlafes sank: Man mußte auf Details achten, den Geist in ständiger Bewegung halten, man mußte lauschen. Und Prabhjot Kaur hörte Mata-jis Stimme, leise, belegt, beschwörend: »Geht, sucht meine Tochter.« Was sonst gemurmelt wurde, floß ineinander, war kaum zu verstehen, doch diesen Befehl vernahm Prabhjot Kaur: »Geht, sucht meine Tochter.« Er duldete keinen Widerspruch. Und sie gingen. Prabhjot Kaur begriff nicht, weshalb sie sich sträubten. Natürlich müssen sie gehen, dachte sie, warum wollen sie nicht? Und dann spürte sie einen Schmerz im Bauch, eine Faust, die sich aufwärts schob und sich um ihr Herz schloß, so daß sie glaubte laut aufschreien zu müssen. Doch sie blieb still und wach, Nacht für Nacht, und wartete.
    Anderthalb Monate später kamen sie zurück. Vierzig Tage und vierzig Nächte später, um genau zu sein, denn Prabhjot Kaur zählte die Tage. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch - es kam ihr vor, als hätte sie erst wenige Minuten geschlafen - und wußte, daß sie wieder da waren. Die Tür zu Mata-jis Zimmer war geschlossen, und sie sprachen sehr leise, aber Prabhjot Kaur hörte sie, und sie war sich sicher. Sie stand auf, stellte sich eine Weile an die Tür, lehnte die Stirn an das rauhe graue Holz, und die Stimmen drangen in ihren Kopf. Alle Hoffnung erlosch. Nacht für Nacht hatte sie sich den glücklichen Moment vorgestellt, das so vertraute Geräusch der über den Boden schleifenden Salvar-Knöpfe, hatte sich vorgestellt, wie sie sich an Navneet-bhenji klammern, ihren Kopf in weicher, tröstlicher Geborgenheit vergraben würde, wie das geliebte Blut in den Armen, die sie hielten, singen würde. Nun wußte sie, daß es nicht geschehen würde. Sie wandte sich ab und trat auf die Veranda hinaus. Ein Drahtzaun, dahinter eine Reihe Gulmohar-Bäume und in der Ferne eine Bergkette, das war alles, was sie von Delhi kannte. Eine Frau hockte am Zaun, und Prabhjot Kaur wußte sofort, wer es war: Ram Pari. Sie erkannte sie an ihrem mühelosen Kauern, dieser Stellung, in der sie stundenlang verharren konnte.
    »Ist das Ram Pari?« Mani war auf die Veranda gekommen und rannte an den Zaun. Als sie sich zu Ram Pari hinabbeugte, sah Prabhjot Kaur Ram Paris emporgewandtes Gesicht. Das Gesicht einer alten Frau, deren Haut schlaff von den Wangenknochen hing. Um die Schultern trug sie einen Dupatta, einen roten, an den sich Prabhjot Kaur gut erinnerte. Jetzt war er zerrissen und zu Rostbraun verblaßt. »Wo kommst du her?« fragte Mani sie.
    »Iqbal-virji - ich hab ihn am Busbahnhof gesehen.« Es war wie ein Schock, Ram Paris rauhe Stimme und den vertrauten ländlichen Singsang zu hören. »Wir sind über die Grenze gekommen. Zu Fuß.«
    »Und ... Und wo sind die anderen?«
    Prabhjot Kaur wollte Mani etwas zurufen. Die Frage schien ihr unerträglich, und sie wollte die Antwort weder hören noch darauf warten. Doch sie blieb stumm und konnte sich nicht rühren.
    Ram Pari schüttelte den Kopf. Ganz langsam schüttelte sie den Kopf. Hin und her, hin und her.
    Die Tür knarrte, und Papa-ji ging an Prabhjot Kaur vorbei, gefolgt von den Brüdern. Die drei Männer blieben auf der Veranda stehen, unschlüssig, was sie tun oder wohin sie

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