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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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versteckte sie sich im Zelt. Sie empfand Scham, ein Brennen und Kribbeln an Armen und Schultern. Und Scham erkannte sie auch in Papa-jis Gesicht, als er einen halben Sack Weizen von einem Bania 056 entgegennahm, der eine Wagenladung Nahrungsmittel aus der Stadt brachte. Sie spürte Scham in Mata-jis geduckter Haltung, in ihrem halb verhüllten Gesicht und in Manis langen Schlafphasen, in der Entschlossenheit, mit der ihre Schwester sich hinlegte und wegdrehte, auch wenn die Sonne auf die Zeltwand brannte und der Boden sich anfühlte, als würde er von unten beheizt. Scham schnürte auch Alok-virji die Kehle zu. Jedes Wort kostete ihn Anstrengung und kam nur langsam und gepreßt heraus. Die Scham umgab sie alle wie ein Geruch nach ungewaschenen Menschen. Am unerträglichsten war sie bei Mata-ji, Prabhjot Kaur konnte ihre Mutter nicht anschauen. Sie blickte nach oben oder zur Seite, sie musterte ihre Hände oder schloß ein Auge, wenn sie an Mata-ji vorbeiging, um sie nicht sehen zu müssen.
    »Es war eine Falle«, sagte Alok-virji. »Das war dieser Khudabaksh Shafi. Er hat das alles geplant.«
    Prabhjot Kaur stand draußen vor dem Zelt und hielt ein Bündel feuchter Wäsche hoch über ihren Kopf.
    »Du meinst das mit dem Haus? Er wollte das Haus und hat uns Angst eingejagt, um uns zu vertreiben?« Es war Iqbal-virjis Stimme.
    »Ja«, antwortete Alok-virji. »Das Haus und alles andere.«
    Das Blut schoß Prabhjot Kaur in den Kopf. Dieses »alles andere« war etwas, worüber sie nie redeten. Nichts wurde ausgesprochen, mit keinem Wort. Ein Name war aus der Welt verschwunden und hatte ein ganzes Leben mitgenommen.
    »Das kann ich nicht glauben«, sagte Iqbal-virji. »Nein, unmöglich.«
    »Glaub es nur«, sagte Alok-virji. »Sie haben das Haus genommen, sie haben unser Land genommen, und das war ihnen immer noch nicht genug. Es war alles geplant. Der Fahrer hat uns direkt in einen Hinterhalt gefahren. Sie haben schon auf uns gewartet, und es waren so viele, daß sie sich nehmen konnten, was sie wollten. Sie hatten nur nicht damit gerechnet, daß wir bewaffnet waren. Uns alle konnten sie nicht töten, und so haben sie sich geholt, was sie holen konnten, und sind geflüchtet. So war das. Hätte ich nur mehr getan. Hätten wir statt drei Häusern nur tausend niedergebrannt! Und ein Lakh von denen umgebracht.«
    »Sei still, Alok.«
    »Warum? Warum soll ich still sein? Ich werde es laut hinausschreien! Bhenchods und Maderchods sind diese Muslime. Wenn ihre Frauen vor mir stehen würden, ich würde sie alle aufhängen und sie wie Ziegen aufschlitzen. Mit meinen eigenen Händen würde ich ihnen die Eingeweide herausreißen. Mit Freuden! Bhenchods! Maderchods!«
    Prabhjot Kaur lief weg. Sie warf die Kleider hin und lief weg. Die Worte ihrer Mutter verfolgten sie: »Tötet sie.« Sie stolperte über Zeltschnüre und schürfte sich an dem schwarzen Kies die Hände auf, sie lief an Kindern vorbei, die ein Holzstück zwischen sich hin und her kickten, an Frauen, die in den Zelteingängen hockten und zerrissene Hemden flickten, an brodelnden Töpfen auf behelfsmäßigen Chulas 129 aus sechs Backsteinen, rannte an allem vorbei, bis sie am Rand der Zeltstadt anlangte, allen bewohnten Raum hinter sich ließ. Vor ihr verlief ein brauner Pfad, jenseits davon lag ein kahler, steiniger Maidan, dann kamen endlose grüne Felder. Sie blieb stehen und hielt sich die Seiten, beugte sich vor, so daß der Schweiß von ihrer Stirn tropfte und dunkle Flecke auf die Erde malte. Dann richtete sie sich wieder auf. Sie wollte fort. Irgendwohin, weit weg von allem, meilenweit weg von ihrer Familie, von allen, die sie kannte. Weißt du es nicht? Ein Mädchen wird in einem Haus geboren, aber zu Hause ist sie woanders. Dieses Haus hier gehört dir nicht. Dein Zuhause ist woanders. Könnte ich doch einfach immer weitergehen, dachte sie. Aber sie kannte die Geographie zu gut, entsann sich zu genau, was sie zusammen mit den Freundinnen in der Schule gelernt, was sie in ihrer schönen Schrift in die braun eingebundenen Hefte geschrieben hatte. Und jetzt wußte sie noch mehr. Es gab Berge auf der einen Seite, Meere auf der anderen, man konnte nirgendwohin, und überall war Angst. Man würde durch die Angst hindurchmüssen, um schließlich doch nirgendwo anzukommen. Es war still auf dem Maidan, und die Felder warteten schweigend. Prabhjot Kaur stand allein am Rand der Flüchtlingsstadt. Schließlich machte sie kehrt und ging zurück zu ihrem Vater und ihrer

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