Der Pate von Bombay
werde dieses Haus nur auf eine Weise verlassen, dann, wenn es soweit ist. Und ihm war plötzlich bewußt geworden, wie allein man auf dieser unendlich weiten Welt sein konnte, wenn die Zeit einem Vater und Mutter nahm. Sag doch nicht so was, hatte er hervorgestoßen.
Tarai gun maya mohi aayi kahan baydan kaahii, 622 sangen die Menschen. Wir sind Wanderer auf dieser Reise, dachte Sartaj, und wir fallen einer nach dem anderen nieder. Neben Ma saß mit wiegendem Oberkörper ihr älterer Bruder Iqbal-mama. Er war ein tief religiöser Mann, einer der Gurudwara-Ältesten, ständig mit guten Werken und wohltätigen Belangen beschäftigt. Sartaj mochte ihn, fand seine permanente Frömmigkeit jedoch erdrückend. Es hatte noch einen anderen Mama gegeben, den die Kinder alle viel mehr geliebt hatten. Sartaj dachte voll Ehrfurcht daran, wieviel dieser riesenhafte Sardar gegessen hatte, Brathuhn zum Frühstück, mittags ein fettes Lammcurry und danach frische Jalebis. Das Abendessen war stets ein von Scotch begleiteter heroischer Kampf gewesen, bei dem Alok-mamas Gesicht knallrot anlief. Die Kinder, all die Cousins und Cousinen, scherzten, es gebe in Alok-mamas Innerem eine Falltür zu einer riesigen Höhle, in der all das Essen verschwinde, ein einziger Mensch könne unmöglich so viel vertilgen. Er keuchte, wenn er von einem Zimmer ins andere ging. Seine Frau hatte ihn eines Morgens tot im Badezimmer gefunden, das Gesicht unter dem laufenden Wasserhahn. Sartaj war damals vierzehn gewesen.
Mani war im Gegensatz zu Iqbal-mama alles andere als fromm. Es hatte laute Streitereien gegeben, wenn sie sich sarkastisch über Iqbal-mamas ewige Beterei äußerte. Ma hatte Mani-mausi 411 stets schwesterlichen Rat geboten und sie davon abzuhalten versucht, ihren Bruder zu plagen. Doch Mani war nicht zu bändigen, wenn sie ihre Launen hatte. Mit ihrer Scheidung, ihren radikal kommunistischen Überzeugungen und ihrem lautstarken Atheismus war sie das schwarze Schaf der Familie. Sartaj wußte nicht, inwieweit er selbst noch gläubig war. Seinen Bart, den Turban und den Kara trug er weiterhin, aber gebetet hatte er aus eigenem Antrieb seit Jahren nicht mehr. In seiner Wohnung hingen Bilder von Gurus, doch er bat sie nicht mehr um Rat und erwartete keine Wunder oder Erleichterungen von ihnen. Die Farben der Bilder erschienen ihm nun zu grell, das makellose Weiß von Guru Nanaks 444 Turban zu weit von den schmutzigen Niederungen des Lebens entfernt. Trotzdem war es gut, dachte Sartaj, daß er mit seiner Mutter hierhergekommen war. Das Licht im Tempel war schön, er genoß die Gemeinschaft der Menschen, die hier Schulter an Schulter beteten, und fand darin Trost.
Ma zog die Salvar über ihre Füße, und Sartaj mußte an die Frau in Gaitondes Bunker denken, an ihre ausgestreckten langen Beine in der modischen Hose. Sie hatten in ihrer Wohnung keinerlei Anzeichen von Religiosität gefunden, weder ein Kreuz noch eine Bibel oder einen Rosenkranz. Vielleicht war sie nicht gläubig oder einfach gleichgültig gegenüber diesen Dingen gewesen. Aber sie hatte mit Gaitonde verkehrt, dessen lange Gebete und Spenden für religiöse Zwecke geradezu legendär waren. Ende der neunziger Jahre hatte er sich in den Medien eine Zeitlang als Hindu-Don präsentiert, als kühner Kämpfer gegen Suleiman Isas antinationale Aktivitäten. Sartaj erinnerte sich an ein Interview in MidDay, in dem er Suleiman Isa ein frühes Ableben prophezeit hatte. »Unsere Leute in Pakistan suchen ihn«, hatte er gesagt. Ein Archivfoto über dem Beitrag hatte einen sehr jungen Gaitonde gezeigt, im roten Sweatshirt und mit dunkler Sonnenbrille. Sein Aussehen hatte Sartaj beeindruckt. Er hatte seinen eigenen Stil gehabt, dieser Ganesh Gaitonde, aber am Ende war nicht sein alter Feind, sondern er selbst gestorben, ohne Suleiman Isas Zutun - so schien es zumindest. Warum? Das war ein interessantes Rätsel, über das sich angenehm grübeln ließ, und den Rest des Vormittags stellte Sartaj alle möglichen Theorien dazu auf.
Er spekulierte noch immer, als er und Ma am Spätnachmittag nach Hause kamen. Nach dem Gurudwara hatten sie zwei Stunden bei Iqbal-mama verbracht, inmitten einer wirbelnden Schar von Nichten und Neffen. Sartaj war als Einzelkind aufgewachsen und liebte das behagliche Chaos großer Familien - in maßvollen Dosen. Jetzt war er angenehm müde, aber sein Kopf arbeitete träge weiter und konstruierte Geschichten über Ganesh Gaitonde. Er lag bei zugezogenen Vorhängen im
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