Der Pate von Bombay
Jahre älter gewesen war als er. Aber er war ihm immer jünger erschienen, jung. Katekar hatte ständig irgend etwas zu klagen gehabt, er hatte seine alten Marathi-Lieder gesungen, seine obskuren wissenschaftlichen Fakten zum besten gegeben und seine endlosen Geschichten über das kurze Leben harter Männer. Er hatte seinen dickbäuchigen Spaß daran gehabt, sich die gereifte und fermentierte Schlechtigkeit der Stadt einzuverleiben, ihre pikanten Skandale, ihre schmerzlichen Zusammenbrüche, ihre grausame, dumpfe Ungerechtigkeit; ihr prächtiges faulendes Fleisch war gefundenes Fressen für ihn gewesen. Und nun mußte Sartaj ein Formular ausfüllen: »Todesursache: -« Er formte die Buchstaben mit Sorgfalt, überzeugt, eine schöne Schrift auf einem amtlichen Formular sei eine Art Ehrenbezeigung für den Verstorbenen. Er schrieb mit Tinte, langsam, vollendete eine Eintragung, dann begannen seine Hände zu zittern. Es war ein Zittern, das von den Ellbogen ausging, ein Schmerz, der aus den Knochen kam und in die Hände ausstrahlte. Sartaj legte seine Hände unter dem Tisch auf die Schenkel und wartete darauf, daß das Zittern aufhörte. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Das Zittern kam und ging. Er schaute sich um. Vor der Tür saßen zwei Polizisten, von denen er nur die Schuhe sah. Apte, der diensthabende Inspektor, war aus Rücksicht und Mitgefühl in das Büro links gegenüber gegangen, damit Sartaj allein sein konnte. Sartaj holte tief Luft und schob langsam seinen Stuhl zurück. Seine Hände lagen zitternd auf dem schmutzigen weißen Stoff seiner Hose. Das war das richtige Wort: zitternd. Kein Zucken, kein Schlottern, nur ein leichtes Zittern, das unter der Haut hervorbrach. Wie melodramatisch, dachte er. Er dachte es auf englisch: melodramatic. Er erinnerte sich an das Wort. Er riß sich zusammen und unterdrückte das Zittern. Behutsam, aber entschlossen griff er nach dem Formular. Er nahm den Füller, setzte die Feder auf und mußte ihn wieder weglegen. Hände sind etwas Seltsames. Die glatten Polster der Handfläche, der mit feinem Pelz überzogene Rücken. Sartaj bog auf der hölzernen Tischplatte einen Finger zurück. Wenn er genügend Druck ausübte, würde der Finger brechen. Der Schmerz stach aus seiner Benommenheit hervor wie blaues Licht aus einer Nebelwand. Sartaj wußte, wie es klang, wenn ein Finger brach. Er hatte es Katekar einmal tun lassen, hatte ihn den Finger eines Apradhis brechen lassen, eines Kidnappers, der das Lösegeld für ein Kind kassieren wollte, die Tochter eines Geschäftsmannes, die er aus der Vorschule entführt hatte. Es war der kleine Finger der rechten Hand gewesen. Sie hatten das Mädchen schließlich aus einem Hotel in Bhandup geholt. Es macht kein lautes Geräusch, wenn ein Finger bricht, eher ein trockenes, durchdringender, als man erwarten würde. Ein kurzes Knacken, wie wenn ein kleiner Knallkörper explodiert. Katekar hatte es getan, von Sartaj dazu aufgefordert, um des Mädchens willen. Sartaj dachte an Katekars breite Hände, nahm den Druck von seinem Finger und stand auf. Die Hände, die Erinnerungen, das Formular - er ließ sich gehen. Er wollte nicht daran denken, was als nächstes zu tun war, was er bis zum Morgen hinausschob: den Gang zu Katekars Familie. Lassen wir sie schlafen, hatte er zu Apte gesagt. Wozu sie mitten in der Nacht wecken?
Doch irgendwann wurde es hell. Zeit, die Uniform wieder anzuziehen.
Katekars Frau wußte sofort Bescheid, als sie die Tür öffnete. Sartaj sah es an ihrem Gesicht. Er hatte leicht an dem hoch oben angebrachten Türhaken gerüttelt, sie hatte, noch taumelnd und mit verquollenen Augen, aufgemacht, und der Satz, den er sich zurechtgelegt hatte - »Bhabhi, bitte verzeihen Sie mir« -, war in dem furchtbaren Wissen um seine Verantwortung untergegangen. Sie schloß die Tür hinter ihm und verschränkte die Arme über dem bogenförmigen Spitzenbesatz ihres weiten Nachthemds. Es hatte ein Rosenmuster, das Nachthemd, mit Dornen und grünen Stielen. Sartaj hatte sie bisher nur bei offiziellen Anlässen in dezent glitzernden Saris gesehen. Drei- oder viermal vielleicht in all den Jahren. Sie schloß einen langen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder. Plötzlich war sie verändert. Sie schob ihr knochiges Gesicht vor und berührte ihn am Arm. Da merkte er, daß er wieder zitterte.
»Was ist passiert?« fragte sie.
Am nächsten Tag um zwei brachten sie den Leichnam nach Hause. Sie legten Katekar auf sein Bett und
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