Der Pate von Bombay
Seminarraum. Er hat ihn hier vergessen, in diesem Krankenhauszimmer, in dem er jetzt liegt. Ich bin hier, ich bin Karpuri Dwarkanath Yadav, seit eh und je als K. D. bekannt, ich liege in einem kleinen weißen Raum mit zugezogenen Vorhängen. Ich liege auf einem weißen Metallbett. Ich lehre nicht, unterrichte nicht. Ich bin krank, deshalb habe ich ihren Namen vergessen. Damals, in Safdarjung, habe ich ihn gewußt. Jetzt weiß ich ihn nicht mehr.
Sie sitzt vor ihm, an seinem Krankenbett. Sie liest ein Buch. Er erinnert sich, daß sie als Kind ständig las. Sie ging mit Buch von einem Zimmer ins andere, kam mit Buch zum Essen, und immer forderte ihre Mutter sie auf, das Buch wegzulegen. K. D. hat ihr damals oft Bücher geschenkt, denn er erkannte seinen eigenen unstillbaren Lesehunger bei ihr wieder, und ihre Frühreife zog ihn an. Er schenkte ihr Classics-Illustrated -Comics, Enid Blyton und dann P. G. Wodehouse. Sie liest noch mit der gleichen ungeteilten Konzentration wie früher, über das Buch gebeugt, das sie mit beiden Händen hält. Er erinnert sich an diese angespannte Haltung, diese Gier, als wollte sie sich die Wörter einverleiben. »Was liest du denn gerade?« fragt er.
Sie blickt auf, erfreut über die Frage, erfreut, daß er spricht. »Es heißt Yogis . Verborgene Weisheit Indiens. «
»Paul Brunton.«
»Gibt es irgend etwas, was du nicht gelesen hast?«
»Das habe ich vor Jahren gelesen.« Er weiß noch genau, wann das war, im Juni 1970 in einem Offizierskasino in Siliguri. Es war ein altes, ledergebundenes Exemplar mit verblaßten Goldbuchstaben und drei schmalen Erhebungen quer über den Buchrücken. Er kann es in seinen Händen spüren. Er hatte es in einer Glasvitrine gefunden, zwischen Ming-Vasen von einer lang zurückliegenden Strafexpedition nach Peking. Draußen vor der Offiziersmesse befindet sich eine Veranda, die gerade von einem Lance-Naik 366 gefegt wird. Ein Stacheldrahtzaun. Eine schadhafte Straße und Felder. Doch er kann sich immer noch nicht an den Namen dieser Frau hier in dem gelben Krankenhauszimmer erinnern. »Es muß eine Neuauflage sein. Wie findest du es?«
»Orientalistischer Unsinn. Ein Weißer, der in einem dunklen, geheimnisvollen Land nach Sadhus und Erleuchtung sucht. Die immergleiche Phantasie.«
K. D. lacht. »Bloß weil es jemandes Phantasie ist, muß es noch lange nicht falsch sein.« Es ist ein alter Streit zwischen ihnen. Er erklärt ihr immer, sie müsse sich endlich von ihren JNU-Träumen 299 vom Weltbürgertum, Anti-Imperialismus und ewigen Frieden lösen. Sie wiederum erklärt ihm, auch sein Realismus sei eine Illusion. Doch über die Jahre ist dieser Streit zu einer formalen Übung geworden, einem Ritual, das aussieht wie ein Streit, tatsächlich aber ein Ausdruck von Zuneigung ist. Und er weiß sehr wohl, daß er dabei im Vorteil ist. Schließlich hat er sie für die Organisation angeworben. Sie ist jetzt eine von uns, eine Schattensoldatin. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als Realistin zu sein. Ich habe sie ausgebildet, ich habe ihr das Spionagehandwerk beigebracht, Analyse, Feinderkennung, Aktion. Ich habe sie in diese anonyme Welt, in unsere Sorgen, in dieses Netz geheimer Missionen hineingezogen. Er lächelt sie an. »Willst du damit sagen, daß es keine Sadhus gibt? Oder keine Erleuchtung?«
Sie legt das Buch weg, rückt den Stuhl näher an sein Bett. »Sadhus gibt es bestimmt.«
»Allerdings. Echte und Scharlatane. Und beide sind nützlich.« Sie nickt, und er ist sich sicher, daß sie ihn versteht, daß sie ihren Lehrstoff nicht vergessen hat. Er hatte auf einem Grundwissen über die Ursprünge der Organisation, über ihre Vorgeschichte bestanden, also hatte er ihnen von den Pandits erzählt, von Nain und Mani Singh Rawat, von Sarat Chandra Das und anderen, unbesungenen Männern, die vor hundert Jahren, als Pilger verkleidet, in die verbotenen nördlichen Regionen vorgestoßen waren, im Norden und Westen des Himalaya Strecken von weit über tausend Kilometern abgemessen hatten, indem sie beim Gehen die Schritte zählten. In Gebetsmühlen hatten sie Kompasse verborgen, in Wanderstöcken Thermometer, und auf der Basis der von ihnen berechneten Entfernungen hatte man die ersten Landkarten dieser wilden Gegenden erstellt. Eine Landkarte ist eine Art von Eroberung, der Vorläufer aller anderen Eroberungen. K. D. hatte seinen Studenten eingeschärft: Merkt euch die Kompasse in den Gebetsmühlen - ein Wissen kann ein anderes verbergen,
Weitere Kostenlose Bücher