Der Pate von Bombay
Informationen nisten in anderen Informationen. Schaut euch alles an, hört überallhin. Das Nützliche versteckt sich im Nutzlosen, die Wahrheit in Lügen. Und so liest nun dieses Mädchen, seine Studentin, von der Suche eines Engländers nach Frieden, die sie für unsinnig hält. Sie ist eine gute Studentin. Jetzt hält sie seine Hand. K. D. fragt: »Warum liest du Brunton?«
»Onkel«, sagt sie leise. »Ich brauche Hilfe. Es geht um Gaitonde. Ich muß mehr über ihn erfahren. Ich muß wissen, warum er sich für Sadhus interessiert haben könnte.«
Ganesh Gaitonde ist ein Übeltäter, aber er war einmal ein Verbündeter der guten Menschen gewesen. K. D. hatte auch ihn angeworben. Für bestimmte Aufgaben, spezielle Einsätze brauchte die Organisation manchmal Übeltäter. In gewissen Bereichen hatten nur Übeltäter Zugang zu verläßlichen Informationen. Also hatte K. D. Gaitonde ausfindig gemacht, in einem Gefängnis, und ihn angeworben. Gaitonde war eine gute Quelle gewesen, und seine Informationen, stets überprüft und verifiziert, waren solide und nützlich gewesen. Er hatte auch Aufträge übernommen und sie diskret und effizient ausgeführt. Zum Schluß war er abtrünnig geworden, er hatte den Geheimdienst verraten, Informationen erfunden und die Mittel der Organisation genutzt, um seine eigene Macht auszuweiten, doch am Anfang war Ganesh Gaitonde ein Übeltäter auf der richtigen Seite gewesen und K. D. sein Führungsoffizier. Um dieses Spiel gut zu spielen, mußte man die Übeltäter führen, sie dazu bringen, Böses zu tun, das letztlich Gutes war. Es war notwendig. Nur wer noch nie auf einem echten Schlachtfeld gestanden hatte, forderte unbefleckte Tugend und makelloses Verhalten. Auf dem Feld war die Moral jeglicher Handlung nur provisorisch, und das Spiel währte ewig. War also Ganesh Gaitonde ein Übeltäter? War Nehru ein Übeltäter?
Bewahr dir deine geistige Klarheit, halt sie fest. Denk nicht an Nehru, das lenkt dich nur ab. Deine Gedanken schlingern, entgleiten dir. Du bist krank. K. D. ballt die Fäuste, hebt den Kopf. Das Mädchen ist aufmerksam, hat die Stirn leicht gerunzelt. Genau wie ihr Vater. Ihr Vater hieß Jagdeep Mathur, K. D. hat ihn an einem Wintermorgen kennengelernt, in einem Konferenzraum in Lucknow, in der Lucknow University. Der Konferenztisch ist mit grünem Filz überzogen, und an allen vier Wänden hängen Gemälde von bedeutenden Europäern in akademischer Robe. Siebzehn Männer sitzen um den Tisch, alle Anfang Zwanzig, alle mit scharfem Blick, intelligent und gebildet. K. D. hat keinen von ihnen je zuvor gesehen, sie sind alle für punkt neun Uhr in dieses Zimmer einbestellt worden. Sie reden nicht miteinander, warten einfach, üben Zurückhaltung, denn sie wissen, daß sie für eine verdeckte Tätigkeit bei einer Organisation angeworben werden, deren Name ihnen bisher nicht genannt wurde. Mit K. D. hat man nach einer äußerst diskreten Kontaktaufnahme durch den Vizekanzler seiner Universität in Patna bereits zwei Gespräche geführt. K. D. glaubt den Grund dafür zu kennen: Er hat einen Bachelor-Abschluß mit Auszeichnung in Geschichte, einen Jura-Bachelor sowie das C-Certificate des Nationalen Kadettenkorps und hat als Sportler landesweiten Ruhm errungen. Er ist durchtrainiert und diszipliniert und besitzt eine erstklassige Bildung. Bisher hat er seine Zukunft am ehesten im juristischen Bereich gesehen, doch diese geheimen Vorstellungsgespräche, diese verborgene Welt, die Verheißung einer dringlichen und außerordentlich wichtigen Arbeit erfüllen ihn mit lebhaftem Interesse. Und so wartet er am Tisch mit all den anderen Männern, die er als Spiegelbilder seiner selbst erkennt - er sieht an ihren kräftigen Unterarmen und aufmerksamen Blicken, daß auch sie zugleich Sportler und Akademiker sind. Die breite Flügeltür am Ende des Saals öffnet sich, und zwei Männer mit militärischem Haarschnitt treten ein. Ihnen folgt auf dem Fuß ein älterer Mann im grauen Jackett, nach seiner dicken Nickelbrille zu urteilen vielleicht ein Professor. Der Professor geht auf den Tisch zu und dreht sich dann erwartungsvoll zur Tür um. Dann tritt Nehru ein. K. D. spürt, wie er errötet. Es ist unfaßbar, aber dort steht tatsächlich Jawaharlal Nehru.
»Meine Herren«, sagt Nehru, und seine Stimme ist heiser, fast brüchig. Die jungen Männer springen alle auf, ein lautes Scharren auf dem Holzfußboden, und er winkt ihnen ungeduldig, sich wieder zu setzen. Er nimmt ganz formlos
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