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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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andere sehr alte Organisationen, unbestreitbar brahmanisch ist, mit einer geringen Beimischung von Kayasths und Pajputs. Doch Mathurs Grinsen ist aufrichtig, und er zögert keinen Augenblick, bevor er über den Tisch langt und K. D. auf die Schulter klopft. »Bloody big lathis«, sagt er glucksend. »Verdammt dicke Lathis, genau. Bist du ein Stockkämpfer, K. D.?«
    »Ja«, antwortet K. D. »Ich habe viele Jahre in Shakhas 579 verbracht.« Das stimmt, er hat manch einen Abend in einer hell erleuchteten Sandgrube gestanden, den Lathi über seinen Schultern herumgewirbelt und von kakhi-gewandeten Lehrern Verteidigungs- und Angriffstechniken beigebracht bekommen. K. D. merkt, daß Mathur das gefällt. Er hat eine Art Prüfung bestanden. Mathur mag ihn.
    Und seit diesem Vormittag mit den Kakori Kebabs wird Mathur von seinen Kollegen nur noch liebevoll »Bloody Mathur« genannt, bis zu jenem Tag zwei Jahrzehnte später, an dem er verschwindet. Er hinterläßt, auf einer Landstraße rund hundert Kilometer nördlich von Amritsar, einen weißen Ambassador mit geplatzten Reifen, einen toten Fahrer, einen toten Leibwächter und einen toten Informanten namens Harbhajan Singh, alle aus nächster Nähe von mindestens drei AK-47 niedergeschossen. K. D. ist an diesem Tag, in diesem Jahr sehr weit weg, auf der anderen Seite dieser wild rotierenden Erde: in London. Er wird durch einen Anruf aus der Europa-Abteilung in Delhi über Mathurs Verschwinden informiert, legt auf und betrachtet durchs Fenster die im gleichmäßigen Rhythmus angeordneten Haustreppen an einem englischen Platz, die weißgrauen Fassaden unter einem bedeckten herbstlichen Himmel. Eine Viertelstunde später hat K. D. in einem Pub drei Straßen weiter ein Treffen mit einem Informanten, einem militanten Sikh, den er seit einem halben Jahr umwirbt. Er muß wachsam und vorsichtig sein, denn er weiß, daß dieser Militante auch von einem pakistanischen Offizier angezapft wird, einem ISI-Mann 278 namens Shahid Khan, doch er kann nur an Anjali denken, die kleine Anjali.
    Anjali. Sie heißt Anjali. Sie ist die Tochter von Bloody Mathur. Sie sitzt jetzt vor mir, hier in diesem Krankenhaus im Sektor V von Rohini, Neu-Delhi. Ich bin nicht in Lucknow, ich bin nicht in London. Ich bin hier. Anjali. Halt das fest. Wirf nicht Zeiten, Daten, Orte durcheinander. Halt die Reihenfolge ein. Da ist einmal Lucknow, wo du Mathur kennengelernt hast, und zum anderen sein Verschwinden im Punjab, aber dazwischen liegen Jahrzehnte. Außerdem gab es die NEFA 454 , Naxalbari, Kerala, Bangladesh, London, Delhi, Bombay. Erinnere dich an die Missionen, die Entfernungen - die Verbindung der einzelnen Punkte ergibt eine Gestalt. Die Gestalt ist die Bedeutung. In der Gestalt meines Lebens muß eine Bedeutung liegen. Aber was ist seine Gestalt? Geh analytisch an die Sache heran, such nach Verbindungen zwischen den Ereignissen, nach Nähe, Wiederholung und Ähnlichkeit, nach dem Antrieb hinter dem Schwung, der Absicht hinter den Aktionen der anderen Seite. Darum geht es bei der geheimdienstlichen Arbeit. K. D. Yadav erinnert sich daran, wie er das gelehrt hat, in einem Seminarraum in Safdarjung. Und dieses Mädchen saß in der ersten Reihe. Anjali.
    »Anjali«, sagt K. D. »Anjali.« Seine eingerostete Stimme kommt mit schmerzhaftem Kratzen in Gang, und er fragt sich, wie lange es wohl her ist, daß er etwas gesagt hat. »Wo warst du?« fragt er.
    »Onkel, ich brauche deine Hilfe wegen Gaitonde.«
    »Gaitonde ist tot.« Gaitonde ist tot. K. D. weiß das, aber er weiß nicht, woher er es weiß. Ich kann nicht mehr richtig denken, geht es ihm durch den Kopf. Sein größter Stolz war insgeheim immer sein gutes Gedächtnis gewesen, sein scharfes Auge für Details, seine glasklare Logik, seine analytische Kompetenz, dieses leuchtende, surrende Räderwerk von einem Verstand. Sein brillanter Geist war legendär, ihm verdankte er es, daß er stolz durch die Korridore der Brahmanen, durch Nehrus Royal Gardens hatte schreiten können. Aber wie war das, richtig zu denken? Im Zerfall seiner geistigen Kräfte, in den Ruinen, die sein Zusammenbruch hinterließ, lauert eine gewaltige Leere, ein absolutes Vakuum, das K. D. angst macht. Doch es ist da, dieses Verlustgefühl, dieser Verdacht, sein ganzes Leben könne vollkommen unbedeutend gewesen sein. Er sagt zu seinem kleinen Mädchen, seiner Anjali: »Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus.«
    Sie

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