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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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gemacht, die eng an ihrem zarten Kopf anlag und ihren langen Hals freigab. Sie sah phantastisch aus, nur würde sie auch nach hundert Jahren und tausend Haarschnitten nicht aussehen wie eine Heilige. Sie war eine elegante Frau Ende Dreißig, lustig, erfahren, von heiterer Neugier, eine Frau, die sich gut gehalten hatte und jenen Glanz ausstrahlte, den nur Geld hervorbringt. Mary wußte zuviel über sie, wie über viele ihrer Kundinnen, zum Beispiel, daß Comilla vor Jahren, mit Anfang Zwanzig, selbst die Verlassene gewesen war, daß ihr Marvari-Freund ein nettes Marvari-Mädchen geheiratet hatte, das seine Eltern für ihn ausgewählt hatten. Daß sie mit diesem Freund weiterhin Wochenenden in Goa verbracht hatte, auch als er schon zweifacher Familienvater war, daß er ihr viele Male ewige Liebe geschworen und erklärt hatte, ihm liege nichts an seiner dicken, langweiligen Frau. Daß er ihr immer wieder versprochen hatte, seine Frau zu verlassen, im nächsten Sommer, dann im Sommer darauf. Und daß es natürlich nie dazu gekommen war. Comilla hatte es schließlich geschafft, sich von dieser unglückseligen Liebe loszureißen, aber mit Dreißig hatte sie allein dagestanden, eine attraktive berufstätige Frau mit einem gutem Einkommen, aber furchtbar einsam. Es gab viele solcher Frauen in Bombay, zu viele. Einige Jahre hatte sie sich abgestrampelt, dann hatte sie sich mit viel Glück ihren Mann geangelt, einen Witwer, der neunzehn Jahre älter war als sie und seine Finger im Immobilien- und Tourismusgeschäft hatte. Er war ein angenehmer Mensch, den ihr Stil bezaubert hatte. Sie hatten zwei Kinder bekommen, und Comilla hatte ein stabiles, behütetes Zuhause gefunden, aber es gab natürlich auch Dinge, die sie unzufrieden machten. Nach der Geburt der Kinder hatte sie sich Liebhaber genommen. Das alles wußte Mary.
    Die Abenddämmerung war die Zeit des Tages, die Mary am liebsten mochte, und nach der Arbeit ging sie oft an der Ufermauer in der Carter Road spazieren. Inmitten von Joggern, Scharen von Teenagern und rüstigen Großeltern in Turnschuhen, die ihren Abendbummel machten, schlenderte sie den Gehweg entlang. Der Himmel hatte an diesem Abend einen grünlichen Farbton mit Schattierungen von diffusem Türkis in der Höhe bis hin zu einem erstaunlichen Unterwasser-Jadegrün am Horizont. Das liebte Mary an dieser Stunde, wenn sich der Tag neigte: diese angenehme Mischung von Farben und Menschen. Darin allein zu sein hieß, in tausend fremden Menschen Gefährten zu finden. Sie hatte natürlich Freunde, und manchmal gingen sie auch zusammen an der Ufermauer spazieren, oft aber war gerade die Einsamkeit und Freiheit das Geschenk, das sie von Bombay wollte. In endlosen Nächten voller Angst und Sehnsucht hatte sie gelernt, allein zu sein, und jetzt schätzte sie ihre Freiheit. Eine gewisse maßvolle Ruhe lag darin, auf sich gestellt zu sein.
    Doch es gab Frauen wie Comilla, die sich - trotz all ihrer Vorzüge - eine andere Art von Geborgenheit erkauften, ein Leben voller Lügen, voller Dramatik und halb bewußter, halb ausgesprochener Kompromisse. Wußte Comillas Mann von ihren Affären? Die halbe Welt wußte davon, oder zumindest die Welt, die im Salon ein und aus ging. Es gab genug Frauen, die untereinander oder mit Mary über Comillas Abenteuer redeten. Vielleicht wußte ihr Mann Bescheid. Vielleicht wußte er Bescheid und schaute weg, vielleicht verstand er sie. Mary glaubte selbst, sie ein wenig zu verstehen, aber sie verwechselte dieses Verständnis nicht mit Freundschaft. Comilla erzählte ihr alles mögliche, doch Mary wußte, daß sie es nur deshalb tat, weil eine zeitweilige Intimität entstand, wenn sie im Stuhl zurückgelehnt saß und ihren Kopf Marys Schere überließ, eine begrenzte Nähe, die nicht der Dunkelheit des Beichtstuhls bedurfte. Doch die fünfunddreißig- bis vierzigtausend Rupien, die Mary jeden Monat nach Hause brachte, machten sie noch nicht zu einem Mitglied von Comillas Gesellschaftskreisen, bei weitem nicht, auch wenn es mehr Geld war, als manche Büro-vaalas verdienten. Comilla hätte eher ihren Chauffeur zum Essen gebeten, als daß sie Mary zu einer ihrer Dinnerpartys eingeladen hätte. Mary war eine ausgezeichnete Friseuse, mehr nicht. Und Mary hatte keine Illusionen, keine Träume und Phantasien darüber, was sie war und was sie noch werden konnte. Sie hatte ihren Platz gefunden und ihren Frieden damit gemacht.
    Drei zerlumpte Mädchen überholten Mary, patschten mit ihren nackten

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