Der Pate von Bombay
Füßen über den Asphalt und umringten einen hochgewachsenen blonden Ausländer. Mary ging an ihm vorbei und mußte lächeln, als die Mädchen ihm die Hände hinstreckten, vor seiner Adlernase auf und ab sprangen und ihn auf englisch bestürmten: »Wie geht's? Onkel, Onkel! Bitte, Onkel. Wie geht's? Bitte. Hunger, Hunger, Onkel. Essen, Onkel.« Der Mann wirkte gequält. So weit war er gereist, und nun sah er sich mit der sprichwörtlichen Armut Indiens konfrontiert, sogar auf englisch. Er schüttelte den Kopf, nein, nein, aber er war stehengeblieben, und bestimmt würde er im nächsten Moment in die Tasche greifen. Sofort lief auch noch eine Gruppe Betteljungen auf ihn zu. Gleich würde er sie alle im Schlepptau haben, so lange, bis er in ein Taxi stieg und flüchtete. Dieser wirbelnde Kometenschweif der Bedürftigen, diese kleine Nervenprobe war der Preis für das Privileg seiner weißen Haut und seines Geldes. Die Kinder an der Ufermauer waren hartnäckig und energisch, doch sie wußten längst, daß sie Mary gar nicht erst anzusprechen brauchten. Mary redete mit ihnen, aber sie gab ihnen kein Geld. Sie waren Profis, sie hatten zu arbeiten und keine Zeit für müßiges Geplauder in ihrer abendlichen Hauptgeschäftszeit.
Nach zwanzig Minuten war Mary am Ende der Ufermauer und fast an der Bushaltestelle beim Otter's Club angelangt: Es war Ebbe, und in der hereinbrechenden Nacht hatte sich das Wasser weit zurückgezogen und einen Wust von Fels und Müll freigelegt. Und dort, dem Meer zugewandt, saß Sartaj Singh. Mary bog nach links ab und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, daß er sie nicht gesehen hatte. Er starrte auf den letzten Schimmer am Horizont. Mary ging weiter zur Haltestelle, wo gerade ein Bus ankam. Die letzten Meter rannte sie fast. Erst als sie wohlbehalten im Bus stand, schaute sie noch einmal zurück. Durch das Rückfenster konnte sie Sartaj noch sehen, wie er allein dort saß und die Füße baumeln ließ. Sie setzte sich und hielt ihre kleine graue Handtasche fest auf dem Schoß. Ihr Herz raste, nicht nur weil sie vom Laufen außer Atem war, das wußte sie. Warum hatte sie ein Gespräch mit ihm um jeden Preis vermeiden wollen? Sie hatte nichts Unrechtes getan. Sie war keines Verbrechens schuldig. Aber er war Polizist, und Polizisten brachten Kummer, wie eine Infektion. Besser, man ging ihnen aus dem Weg.
Ihre Erleichterung hielt die ganze Heimfahrt über an, als sei sie der Begegnung mit etwas Dunklem, Aufwühlendem entronnen. Schon ein kurzer Blick auf ihn hatte genügt, um seine tiefe Traurigkeit zu spüren. Er hatte mit einer forschenden, gequälten Spannung in Schultern und Hals auf Meer und Himmel geblickt, als erwartete er von dort eine Antwort. Vor einem solchen Mann flüchtete man besser.
Mary sperrte ihre Tür ab und schob den Riegel vor. Sie machte nur eine einzige Lampe weit unten an der Wand an, die den Raum wie in heimeliges Kerzenlicht tauchte. Vom Abend zuvor war noch Fischcurry übrig, und sie machte sich schnell eine kleine Schale Reis. Zum Essen setzte sie sich aufs Bett und trank dazu Wasser aus einem großen Metallbecher, der auf ihrem Nachttisch stand. Auf Discovery lief eine Tiersendung - sie mochte Tiersendungen, den ewigen Kreislauf von Geburt, Wanderung und Aufzucht der Jungen. Unter dem hohen Himmel Afrikas schien es in Ordnung, wenn Hirsche oder Zebras von Löwen gerissen wurden, ein blutiges, aber notwendiges Element im allumfassenden harmonischen Geschehen. Marys Freundin Jana, die geradezu süchtig war nach den abendlichen Serien über Großfamilien und Ehemänner auf Abwegen, fand diese Vorliebe krankhaft und befremdend und bestand darauf, daß sie umschalteten, wenn sie bei Mary war. Doch das endlose Hin und Her von Sehnsucht und Verrat in den Serien widerte Mary an, es machte sie nervös und wütend. Haie waren wenigstens ehrlich in ihren Begierden und außerdem schön.
Mary wusch ihren Teller und die Töpfe ab und holte dann von hinten aus dem Kühlschrank ihre Schokolade hervor, eine kleine Schachtel Rumkugeln von Rustam's in Colaba, in prächtiger Goldfolie einzeln verpackt. Abends nach dem Essen gönnte sie sich eine davon, und nur sie selbst wußte, wieviel heroische Selbstbeherrschung sie aufbringen mußte, um nicht die ganze Schachtel auf einmal aufzuessen. Sie nahm die Kugel ganz links, ging zum Bett zurück und stellte den Ton lauter. Im Fernsehen schlich gerade ein Leopard durchs Unterholz. Mit den Fingerspitzen zog sie langsam die fein
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