Der Pate von Bombay
hätte man eine furchtbar dumme Frage gestellt. Und dann arbeitete sie weiter. Sie hat immer gearbeitet.«
»Wann ist sie gestorben?«
»Nachdem ich diesen Ärger mit meiner Schwester hatte. Ich erfuhr erst ein Jahr später davon.«
Den Ärger hatte sie eigentlich mit dem Mann ihrer Schwester gehabt, aber ich ließ das durchgehen. Wenn Frauen von ihren Problemen berichteten, war es das beste, manches zu ignorieren. Das hatte ich aus meinen langen Gesprächen mit Jojo, der Anwältin der Frauen, gelernt. Wenn man etwas einwandte, erntete man lautstarken Widerspruch und dann Schweigen. Und ich wollte, daß Jojo weiterredete, ich brauchte es. An diesen späten Abenden rettete sie mich durch ihr Reden.
Morgens las ich Zeitung. Ich begann mit den auf Marathi verfaßten Blättern, ging dann zu denen auf Hindi und schließlich den englischen über. Englisch las ich immer noch sehr langsam und stockend, und ich mußte die Lektüre oft unterbrechen, um meine Jungs nach der Bedeutung eines Wortes oder einer Konstruktion zu fragen. Ich hatte mein Englisch-Marathi-Wörterbuch, doch es war immer ein langwieriges Unterfangen, und gegen Ende wurde ich jedesmal ärgerlich. »Gaitondes Truppe erholt sich nur mühsam von Verlusten«, hieß es in der Times of India , und als ich am Ende des Artikels angelangt war, hätte ich den anonymen »Sonderkorrespondenten« umbringen können. Nicht nur wegen der schlampigen Berichterstattung, sondern vor allem wegen des hämischen Untertons, mit dem der Verfasser vorgab, alles zu wissen, was in Gaitondes Kopf vorging: »Während Gaitonde in seiner Zelle um seine Frau trauert und seine Wunden leckt, konsolidiert Suleiman Isa seine Macht.« Diese englischen Vaalas standen immer über allem, sie lebten in einer anderen Welt, fern meiner Baracke, meiner Straßen, meiner Heimat. Wenn ich mich aufregte, grinsten die Jungs jedesmal und sagten: Wenn Sie sich so darüber ärgern, Bhai, warum lesen sie diesen Unsinn dann überhaupt?
Ich sagte es ihnen nicht, aber ich las diesen Unsinn, weil ich mich dadurch lebendig fühlte. Der Gaitonde, der in diesen Zeitungsspalten beschrieben wurde, besaß eine Vitalität, die ich selbst nicht verspürte. Er war ein Mann von steinerner Miene und ausgeprägtem Selbstbewußtsein, angeschlagen, aber skrupellos plante er sein Comeback. Wenn ich ihn betrachtete, war ich stolz auf ihn. Ein echter Mann. Also brachte ich keine Journalisten um, sondern gab statt dessen Interviews. Ich schickte den Presseleuten Scotch und schmeichelte ihnen mit vertraulichen Mitteilungen. Sie wollten alle die Geschichte meines Lebens hören, also erzählte ich ihnen Geschichten. Sie druckten jede einzelne davon ab. Unsere Einkünfte stiegen, und mehr Jungs denn je wollten bei uns anfangen.
In dieser Zeit meines wachsenden Ruhms kam eines Tages einer der Aufseher zu mir. »Bhai«, sagte er, »in Baracke fünf gibt es so einen verrückten Chutiya, der behauptet, er hätte Sie gekannt, bevor Sie Ganesh Gaitonde wurden.«
»Bevor ich so hieß? Ich habe nie anders geheißen. Ich bin schon immer Ganesh Gaitonde.«
»Ich weiß nicht, was er meint, Bhai. Er ist irr. Aber er behauptet das immer wieder.«
»Dann vergiß es. Warum belästigt du mich damit?«
»Tut mir leid, Bhai.« Er wandte sich mit eingezogenem Kopf ab und kicherte. »Tut mir leid. Das ist ein echter Vediya 658 , der hält sich für Dev Anand. Aber dabei hat er immer den Finger in der Nase, dieser verrückte Mistkerl.«
»Moment mal«, sagte ich. »Moment mal. Dieser Typ ist bei den alten Knackern?«
»Ja, Bhai. Richtig alt ist er nicht, aber er hat schneeweiße Haare. Er trägt sie hochgekämmt wie Dev Anand.«
Ich machte den Mund auf, schloß ihn wieder. Ich sagte leise: »Bring ihn zu mir.«
»Ich werde ihm sagen, daß Sie ihm Papier geben wollen, Bhai. Dann wird er nur so gerannt kommen.«
»Papier?«
»Er zeichnet, Bhai.«
»Er zeichnet? Egal, hol ihn einfach. Los, los, mach schon.«
Es gab eine etwa zehnminütige Verzögerung, weil verschiedene Wachen erst Anweisungen erhalten mußten. Aber dann war er da. Ich erkannte ihn sofort. Er war gebeugt und noch dünner als früher, doch es war Mathu, keine Frage. Genau der Mathu, der vor langer Zeit mein Kumpan auf dem Boot gewesen war, der mit mir übers Meer gefahren war, um mit Gold zurückzukehren, der mit mir zusammen Salim Kaka getötet hatte. Er kam langsam auf mich zu, von zwei meiner Jungs flankiert, äugte unter zotteligen Augenbrauen hervor. Er hatte einen
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