Der Pate von Bombay
geschimpft und gedroht, ihn umzubringen. Also wurde Mathu verhaftet, kam ins Gefängnis, wo er immer noch auf seine Verhandlung wartete. Er hatte kein Geld mehr und hätte sich ohnehin keinen Anwalt nehmen können. Er war ja verrückt.
»Was ist auf all dem Papier, Mathu?« fragte ich.
Er zuckte zusammen, krümmte sich und begann leise zu wimmern.
»Er hat Angst, daß Sie es ihm wegnehmen. In den Barakken für die normalen Häftlinge haben sich die anderen immer über ihn lustig gemacht und ihm seine Blätter und Stifte geklaut. Deshalb haben wir ihn zu den Alten gesteckt. Er sitzt den ganzen Tag da und zeichnet.«
»Und was, Mathu? Was zeichnest du?« Ich strich ihm über die Schulter. »Komm. Du weißt doch, wer ich bin. Wir waren zusammen auf dem Boot. Du hast selbst gesagt, daß du mich kennst. Du kennst mich. Ich bin Ganesh Gaitonde.«
Jetzt drehte er sich zu mir um und ließ zu, daß ich ihn aufrichtete und die Zettel unter seinem Bein hervorzog. Es waren Papierreste, auseinandergeklappte Umschläge, Ausschnitte aus alten Zeitungen, Fetzen von Quittungen, Gefängnisformularen. Jedes freie Fleckchen auf diesen Zetteln war mit winzigen Zeichnungen von Männern, Frauen, Gebäuden und Tieren bedeckt. Er war ein guter Zeichner, unser Mathu. Man erkannte, was eine Person fühlte, ob ein Tier Angst hatte. Die Bäume bogen sich unter einem starken Wind, und auf einer dunklen Straße leuchteten Straßenlaternen. Die Leute unterhielten sich in Sprechblasen miteinander, allerdings waren die Zeichnungen so gedrängt, so winzig, daß man kaum entziffern konnte, was gesagt wurde, selbst wenn man sich das Blatt direkt vor die Augen hielt. Eine Art verrückter Comicstrip - allein vom Hinschauen wurde einem schwindlig, all die Figuren, die sich auf dem Blatt nach oben und unten bewegten und vom einen aufs nächste übergingen, jeder Quadratzentimeter war mit irgendeiner Diskussion, einem Streit oder Liebe ausgefüllt, aber man erkannte trotzdem, daß das alles zusammenhing, daß es irgendwie einen Sinn ergab.
»Das ist wirklich gut, Mathu. Was ist das, was du da gezeichnet hast?«
Es verzückte ihn regelrecht, daß ich das fragte. Einen Moment lang erkannte ich den alten Mathu wieder, den Mathu, der selbst in den Tagen von Amitabh Bachchan 017 seinem Dev Anand treu geblieben war, der von morgens bis abends hatte Drachen steigen lassen, bis Sakranti 548 , und gern Marineblau trug, weil ihm ein Freund seiner Schwester einmal gesagt hatte, es stehe ihm gut. Er lächelte breit, entblößte ein lückenhaftes gelbliches Gebiß und sagte: »Mein Leben, Ganesh.«
Und plötzlich erkannte ich einen kleinen Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, der in Shorts und Chappals und mit einer Schultasche am Rand eines zerrissenen Briefumschlags entlanglief. »Bist du das?«
»Ja.«
»Und du willst dein ganzes Leben zeichnen?«
»Ja, ja.«
»Warum?«
Das verschlug ihm die Sprache. Er wußte keine Antwort darauf. Er ließ den Kopf hängen, und nach einer Weile begann er zu weinen. Ich umarmte ihn, dann setzte ich ihn neben mich und schickte einen der Jungs einen Block holen. »Da, Mathu. Da hast du einen ganzen Stapel Papier. Willst du noch mehr?«
»Ja.« Seine Nase lief, der Rotz tropfte ihm auf das Blatt. Er griff nach dem linierten Papier. »Und Stifte. In verschiedenen Farben.«
»Das werde ich dir alles besorgen. Mach dir keine Gedanken.«
Er nickte fröhlich. Ich veranlaßte, daß er gewaschen wurde, und schickte ihn mit einem Berg Papier in seine Baracke zurück, von zwei meiner Jungs eskortiert. Dann überlief mich ein Schauer, und ich zog die Knie an und dachte nach. Ich hätte ihn natürlich in die Welt hinausschicken können, aber der Aufseher hatte mir gesagt, Mathu komme selbst im Gefängnis kaum allein zurecht. Er verschenkte sein Essen, wenn er dafür einen Stift bekam, und oft vergaß er schlichtweg zu essen. Er wollte nichts anderes tun als sein Leben zeichnen. Wenn er in seinem derzeitigen Tempo weitermachte - nach sieben, acht Jahren war er bei seinem ersten Tag in der zweiten Klasse angelangt -, würde er erst in zwanzig oder dreißig Jahren zu unserer Fahrt mit Salim Kaka kommen. Er stellte keine Bedrohung für mich dar. Also erteilte ich am nächsten Morgen einige Anweisungen und beauftragte den Aufseher, der Mathu zu mir gebracht hatte, sich bis in alle Ewigkeit um ihn zu kümmern. Ich sprach Mathu eine monatliche Rente zu, eine nicht unbeträchtliche, wenn man bedachte, daß er nichts für die Unterbringung
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