Der Pate von Bombay
kommt einiges zusammen. Das führt in Versuchung.«
»So ist das Leben, voller Versuchungen.«
»Stimmt. Das ist auch noch so was. Die Jungs und Mädchen. Selbst die strenggläubigen Familien nehmen ihre unverheirateten Töchter zu den Garbas mit - und können sie natürlich nicht mehr im Auge behalten, wenn sie erst mal in dieses Durcheinander eintauchen. Aber die Jungs finden sie. In den ein, zwei oder auch drei Monaten nach Navaratri verzeichnen sämtliche Kliniken der Stadt eine deutlich höhere Zahl von Abtreibungen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Wir sollten da eigentlich etwas unternehmen, von Seiten der Polizei.«
»Sie wollen, daß die Polizei bei den Garbas ein Auge auf die Jungs und Mädels hat?«
»Wenn es genügend Polizisten gäbe, wäre das vielleicht keine schlechte Idee. Das wird nämlich immer schlimmer.«
»Vielleicht finden die Jungs und Mädels ja, daß es immer besser wird.« Sie sprach mit übertriebenem Ernst, und Sartaj wurde plötzlich klar, daß sie sich über ihn lustig machte. Zu seinem Erstaunen spürte er, daß er errötete.
»Sie haben recht«, sagte er und rieb sich den Nacken, den Blick zu Boden gerichtet. »Man entwickelt heutzutage schnell altmodische Ansichten. Ich klinge schon wie mein Vater. Er war auch Polizist.«
»Hier in Mumbai?«
»Ja. Hier. Er gehörte übrigens auch zu den Leuten, die nicht ohne einen Umweg über Thane nach Bandra gelangten.«
»Ich dachte, Polizisten müßten sich kurz fassen.«
»Oh, das konnte er durchaus. Aber er hat immer gesagt, das, was im Abschlußbericht eines Falles weggelassen wird, ist der eigentliche Fall. Und so hat er dann zum Beispiel von einem Banküberfall in Chembur erzählt, und plötzlich war man in Amritsar. Meine Mutter hat ihn immer ausgelacht.«
»Wo ist Ihre Mutter jetzt?«
Sartaj erzählte ihr von dem Haus in Pune und den Vorteilen, die es hatte, wenn Ma in der Nähe ihrer Verwandtschaft und des Gurudwara lebte, und dann schilderte er ihr einen von Papa-jis interessanten Mordfällen, der tatsächlich von Colaba bis Hyderabad gereicht hatte. Sie sagte nicht viel, doch die zwei Fragen, die sie stellte, trafen den Kern der blutigen Angelegenheit. Erst als Jana und Suresh wiederkamen - ihren schlafenden Sohn an Sureshs Schulter merkte Sartaj, daß über eine Stunde verstrichen war. Es war weit nach Mitternacht. Sartaj begleitete die kleine Gruppe hinaus, brachte sie zu einer Autorikscha und winkte ihnen zum Abschied. Er stand mit dem Rücken zu dem reich geschmückten, blumenbehängten Garba-Tor, die Arme in die Hüften gestemmt, und dachte über Mary Mascarenas nach. Sie war eine ruhige, komplizierte Frau, aber es war erstaunlich leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war intelligent, hatte klare Ansichten und war dickköpfig. Im Gujarati-Ghagra wirkte sie glanzvoll und zugleich bescheiden, klein, sinnlich. Irgendwie verhieß sie Ungemach. Oder zumindest Unruhe. Sie war gefährlich. Er mußte auf der Hut sein.
Am nächsten Morgen beim Chai entschied Sartaj, daß die Geschichte mit der Bombe absurd war. Er schämte sich dafür, daß er Angst gehabt, etwas geglaubt hatte, das ganz offensichtlich der Phantasie einer gutgläubigen Frau entsprungen war, die zufällig für den Geheimdienst arbeitete. Diese Spione waren eh ein paranoider Menschenschlag, eine Kaste geheimer Krieger, die hinter jedem Verbrechen fremde Mächte vermuteten und hinter jeder Ecke einen Terroristen. Sartaj trank seinen Tee und verspürte keine Angst. Für Ende September war es ein ungewöhnlich kühler Morgen, und er war gut gelaunt und energiegeladen. Er setzte sich mit seiner zweiten Tasse und der Dainik Jagran 142 ans Fenster und sah den Vögeln zu, die, über dem Sumpf kreisend, in das heller werdende Licht aufstiegen. Die Nachrichten waren schlecht, so schlecht wie üblich, an der Grenze gab es weiterhin Spannungen, in Jammu hatte ein Granatenangriff stattgefunden, die regierende Koalition drohte zu zerbrechen. Alles ging in die Brüche, doch unter der Dusche seifte sich Sartaj trotzdem beschwingt die Brust ein und sang Bhumro bhumro mit, das ein Stockwerk tiefer im Radio lief. In der Wohnung über ihm hörte er Kinder lachen und ebenfalls mitsingen. Es war ein guter Morgen.
Das Handy klingelte, als er gerade die Wohnungstür abschloß. Heute war mit seinem Selbstbewußtsein alles in Ordnung, er war sich sicher, daß Mary ihn anrief und nicht etwa jemand von der Wache. Er drückte auf eine Taste und sagte: »Hallo, hallo?«
»Hallo«,
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