Der Pate von Bombay
Himmel langsam von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ich schlief, doch es war kein erholsamer Schlaf. Ich brauchte Erholung, fand aber keine.
Dann weckte mich Arvind mit ein paar Stupsern. »Bhai«, sagte er. »Kommen Sie. Das müssen Sie sich anschauen.«
»Was denn?«
»Im Fernsehen, Bhai. Es ist unglaublich.«
»Gaandu, du weckst mich wegen einer dämlichen Fernsehsendung? Wieviel Uhr ist es?«
Er war schon wieder weggestürmt - Arvind, der ewig Respektvolle. Da mußte wirklich etwas Unglaubliches im Fernsehen laufen. »Kurz vor acht«, antwortete er, während er auf die Tür der Hauptkajüte zurannte. Ich raffte mich hoch und folgte ihm, taumelnd und leicht schwindlig, wie aus der Zeit gefallen. Der Abend erschien mir völlig irreal, obwohl ich das Holz unter meiner Hand spürte.
Im Fernsehen brannte ein Gebäude. Man sah eine Skyline, und eins der Gebäude brannte. Ich setzte mich. »Was ist das?« wollte ich wissen.
»New York, Bhai«, sagte Arvind. Er hockte vorgebeugt auf der Stuhlkante. Auch die anderen drängten sich in der Kajüte. Eine aufgeregte Stimme kommentierte die Bilder auf Thai.
»Ein Film?«
»Nein, Bhai. Das ist echt. Ein Flugzeug ist in das Gebäude geflogen.«
Ich fand, daß es aussah wie ein Film. Einer dieser großen amerikanischen Katastrophen-Abenteuer-Terrorismus-Streifen. »Ein Unfall?« fragte ich. Arvind hob die Hände, er wußte es nicht. »Schalt auf einen englischsprachigen Sender um«, sagte ich. Mir summte das Blut in den Adern.
Auf jedem Kanal, den wir fanden, wurden dieselben Bilder gezeigt, der qualmende Turm und sein Zwilling. Schließlich fanden wir einen Kanal aus Hongkong, der eine Satellitenübertragung von Fox sendete. »Der Nordturm brennt immer noch«, sagte der Reporter. Rauchwolken quollen seitlich aus dem Gebäude. Dann kam von rechts etwas Schmales, Silbernes ins Bild geflogen. Ich sprang auf, atemlos. Das Flugzeug verschwand hinter dem brennenden Wolkenkratzer, und dann schoß eine spitze Flamme aus dem anderen Turm empor. Alles völlig lautlos.
Wir schwiegen alle. Ich wußte plötzlich, was wir da sahen. Ich wußte es einfach. »Das ist kein Unfall«, sagte ich. »Das ist Terror.«
Ich saß bis drei Uhr morgens vor dem Fernseher. Ich ließ mir etwas zu essen bringen, und wenn ich aufs Klo ging, machte ich die Tür nicht zu, und die Jungs mußten die Lautstärke hochdrehen. Ich sah fern, bis ich die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Dann befahl ich den Jungs, in Schichten wach zu bleiben und mir Bescheid zu sagen, wenn ein weiterer Anschlag erfolgte oder irgend etwas Neues bekannt geworden war.
Die Einsamkeit in meiner Kajüte war unerträglich. Das Wasser klatschte an die Bootswand, ich riß mir die Kleider vom Leib und versuchte ruhig zu atmen. Warum war ich so aufgewühlt? Wahrscheinlich waren sehr viele Menschen ums Leben gekommen, aber es starben ständig Menschen. Was trieb mich in diese panische Aufregung? Die Jungs und ich waren zu dem Schluß gekommen, daß dieser Anschlag von Muslims ausgeführt worden war, vielleicht von Arabern. Na und? Es war eine Eskalation, sicher, und Amerika würde mit seiner gewaltigen Kraft zurückschlagen und sich weitere Feinde machen, aber das war nichts Neues. Ich fand keine Antwort, und ich mußte schlafen. Ich zwang mich zu duschen, dann schluckte ich eine Tablette und legte mich hin.
Ich döste ein ums andere Mal ein, fiel in einen leichten, von Qualm und Staub erfüllten Schlaf, aus dem ich keuchend erwachte. Wieder und wieder sah ich die gerade Linie, die das Flugzeug beschrieb, als es auf die elegante Senkrechte des Gebäudes zuhielt. Ich drehte mich auf die Seite, versuchte an meine Arbeit, an Frauen zu denken, doch diese geometrische Figur ging mir nicht aus dem Sinn. Ja, das war Terror.
Ich setzte mich auf. Wo war Guru-ji jetzt? Irgendwo in Europa. In Prag. Ich konnte ihn anrufen. Ich griff nach meinem Handy.
Er ging sofort ran. »Ganesh? Ist alles in Ordnung?«
»Guru-ji, haben Sie heute Fernsehen geschaut?«
»Ja.«
»Das war doch furchtbar.«
»Ja.«
»Also, diese verdammten Amerikaner tun ja so, als gehörte ihnen die ganze Welt, und früher oder später mußte irgend jemand zuschlagen. Aber trotzdem, das heute ...«
»Ja, Ganesh?«
Was ich ihn fragen wollte, schwirrte mir in tausend Bruchstücken durch den Kopf. Ich knetete an meinem Kinn herum, rieb mir die Augen, versuchte die Fäden zusammenzuführen. »Sie haben doch gesagt, die Welt sei schön.«
»Ja.«
»Sie hat irgendwann
Weitere Kostenlose Bücher