Der Pate von Bombay
nicht.«
»Was? Hast du denn Kismet nicht gesehen?«
Ein rauhes Gelächter bricht aus Ram Pari heraus. Ihr ganzer Groll ist wie weggewischt. »Nein, ich habe Kismet nicht gesehen.« Sie empfindet jetzt nur noch Zärtlichkeit für dieses Kind, das glaubt, jeder habe die Zeit und das Geld, sich Kismet anzusehen, und das seine Zukunft auf einer von Romantik und Verheißung glitzernden Leinwand vor sich sieht. Ram Pari spürt im Bauch, in den Lenden den Kummer, der Navneet erwartet, der einfach deshalb kommen wird, weil sie auf soviel hofft. Ram Pari weiß nicht, was für eine Katastrophe sich ereignen wird, aber daß eine kommen wird, weiß sie sicher. Sie sagt, so freundlich sie kann: »Vielleicht werde ich Kismet ja eines Tages mal sehen.«
Navneet ahnt langsam, daß sie etwas gesagt hat, das vielleicht ein bißchen dumm war, und ist verwirrt. Sie stottert herum und errötet erneut. Ram Pari würde ihr jetzt am liebsten die Hand auf den Arm legen, tut es jedoch nicht. Sie weiß, daß jeden Moment Bibi-ji auftauchen kann, die sie anschreien und ihr Trödelei vorwerfen wird. Doch Bibi-jis Gebrüll abschütteln kann sie noch bis in alle Ewigkeit, jetzt aber, in diesem Augenblick, liebt sie Navneet. Sie sagt: »Erzähl mir, worum es in Kismet geht«, und setzt sich bequem hin, um zuzuhören.
III
R ehmat Sani sieht zu, wie hinter der verblassenden Grelle einer Leuchtrakete der Nachthimmel erscheint. Er hockt behaglich und verträumt in einer Mulde, die ihm wohlvertraut ist, da er diese Route seit fast drei Monaten nimmt. Er ist sechzig Meter vom Zaun entfernt, auf der pakistanischen Seite, und hat es nicht eilig. Es sind noch fünf Stunden bis zum Tagesanbruch, und er hat Geduld. Als er das erste Mal die Grenze überquerte, war er noch ein Junge, damals konnte man einfach rüberlaufen, solange man darauf achtete, die Patrouillen und Minenfelder zu umgehen. Die Bestechungsgelder für die Rangers und Grenzposten waren niedriger und die Minen nicht so dicht gestreut, außerdem gab es den Zaun noch nicht. Aber egal. Rehmat Sani kennt in südlicher wie nördlicher Richtung auf hundertfünfzig Kilometern jeden Quadratzentimeter, und die Grenze ist viele tausend Kilometer lang. Selbst wenn der Zaun durchgezogen wäre, käme er rüber. Er hat auf beiden Seiten Geschäftsinteressen und natürlich Familie.
Diesmal hat es sich gelohnt. Statt der üblichen Viertelliterflaschen Rum hat er zwei große Flaschen ausländischen Whisky für seinen Cousin auf der pakistanischen Seite dabeigehabt. Mushtaq hat einen Captain, der den Whisky wollte, und ein Captain kann sehr nützlich sein, also hat Rehmat Sani über Aiyer den Whisky besorgt und ihn über die Grenze gebracht. Aiyer ist klein, dunkel und trägt eine dicke Brille, sieht also nicht gerade wie einer vom Geheimdienst aus, aber dumm ist er nicht. Er weiß, wann er flexibel sein muß. Und so hat Rehmat Sani von dem Captain profitiert, von dem Geld, das er für seinen Cousin, den Havaldar, über die Grenze geschafft hat, und von einer Flasche Rum, die er für seinen eigenen Gewinn geschmuggelt hat. Er hat keine neuen Informationen für Aiyer, aber Aiyer wird warten, bis der Captain aufgebaut werden kann. Aiyer ist noch jung, aber er lernt schnell. Rehmat Sani setzt große Hoffnungen auf ihn.
Rehmat Sani reckt sich, entspannt seine Muskeln. Vielleicht wird er doch langsam zu alt für diesen Job. Er riecht die Feuchtigkeit des tiefen Nullah, den er benutzen wird, um zum Zaun zu gelangen. Wenn er durch diesen sich windenden Graben gekrochen ist, wird er durchnäßt und durchgefroren sein, und nach diesem letzten Stück seiner Route wünscht er sich jedesmal, er hätte Söhne, die schon Geld verdienten. Doch seine erste Frau hat ihm nur vier Töchter geschenkt, und die jüngere Frau ist erst nach drei Jahren schwanger geworden, nachdem er zum Dargah Sharif 149 in Ajmer gegangen ist, einen Faden an das Gitter des Grabmals gebunden, geweint und Khwaja Sahib 342 um seinen Beistand gebeten hat. Erst dann wurde ihm Khalid geboren. Khalid ist jetzt in der Schule, in der fünften Klasse, und Rehmat Sani gedenkt ihm eine umfassende Bildung zukommen zu lassen. Rehmat Sani kennt die Anforderungen der Zeit, er weiß, daß ein ungebildeter Mann - wie er selbst -nicht weit kommt und keinen Wohlstand erlangt. Aber vier Töchter, zwei verheiratete und zwei, die noch zu Hause sitzen, sind eine ziemliche Belastung. Als Rehmat Sani so alt war wie Khalid, hatte er seinen Vater schon bis nach Lahore
Weitere Kostenlose Bücher