Der Pate von Bombay
tanzten, sprach Guru-ji von den Zyklen der Geschichte. Ich saß ganz hinten und schaute ihm über die wohlgeordneten Reihen von Firangi-Köpfen hinweg zu. An der Decke hingen Monitore, doch ich richtete den Blick direkt auf Guru-ji und strengte meine Augen an. Nach all den Monaten, in denen ich seine Stimme nur übers Telefon gehört und seine Augen nur auf verschwommenen Fotos in der Zeitung gesehen hatte, wollte ich ein direktes Darshan. Und ich spürte seine Gegenwart, sein großes Atman und den Frieden, den es mir brachte. Ich wurde besänftigt, ich wurde geheilt, ich wurde gekräftigt. Nur wer ihn kennt, weiß, was für ein Licht er verströmt, welch leuchtende Klarheit aus seinem Darshan erwächst. Ich setzte mich auf wie ein eifriges Kind und ließ mich unterweisen. Er sprach über unsere Zeit, über die Turbulenzen, die unsere Welt aufrührten. »Habt keine Angst«, sagte er in seinem polternden Hindi, das simultan ins Deutsche übersetzt wurde. »In den vergangenen Jahrhunderten habt ihr immer wieder vom Fortschritt reden hören, aber erlebt habt ihr nur Leid und Zerstörung. Ihr habt Angst vor der Wissenschaft, vor ihrer Raffgier, ihrer Macht. Eure Politiker erzählen euch, daß alles besser wird, aber ihr wißt, alles wird schlechter. Deshalb packt euch die Angst. Ich aber sage euch: Habt keine Angst. Wir nähern uns einer Zeit großer Veränderungen. Sie sind unvermeidlich, sie sind notwendig, sie werden und müssen erfolgen. Und die Zeichen dieser Veränderung sind überall. Zeit und Geschichte sind wie eine Welle, ein sich zusammenbrauender Sturm. Wir nähern uns dem Scheitelpunkt, dem Losbrechen des Sturms. Ihr spürt das, ich weiß es, in eurem Körper braut sich ein Gefühlssturm zusammen. Die Ereignisse gewinnen an Intensität, sie folgen dicht aufeinander. Doch in diesem Mahlstrom liegt die Verheißung von Frieden. Erst nach der Explosion werden wir Stille und eine neue Welt finden. Das ist gewiß. Zweifelt nicht an der Zukunft. Ich versichere euch, die Menschheit wird in ein Goldenes Zeitalter der Liebe, des Überflusses, des Friedens eintreten. Habt also keine Angst.«
Ich hörte ihm zu und hatte keine Angst, obwohl ich allen Grund dazu gehabt hätte. Ich war voller Sorge zu ihm gekommen, mit nervösem Magen, müdem Geist und wankendem Mut. Ich war ohne meine Jungs und deren Schutz zu ihm gekommen, weil ich das Bedürfnis hatte, in seiner Gegenwart zu sein. Und bereits nach wenigen Minuten war Ruhe in mich eingezogen. In meiner Jugend war ich gegenüber Sadhus und Sants 557 skeptisch gewesen, ich hatte sie für Scharlatane, Trickser, Hochstapler gehalten, aber dieser Mann durchbrach den Schild meines Zweifels mit einer unbeschreiblichen Kraft. Man mag sich in der bitteren Befriedigung der Skepsis suhlen, mag mich für einen Schwachkopf halten, für einen gelähmten Narren, der Trost suchte, einen Taumelnden, der eine Krücke brauchte. Doch all diese Gedanken - die ich selbst durchaus auch gehabt hatte - sind nichts anderes als Scheuklappen gegen die Wahrheit, gegen die schlichte Tatsache, daß ich Frieden fand, indem ich im selben Raum saß wie er. Natürlich gab er diese innere Ruhe nicht nur mir, sondern auch all den Deutschen in der Halle. Und Tausenden anderen Menschen auf der ganzen Welt, die auf ihn, seine Lehre, seinen Aufruf ansprachen. Er hatte diese Wirkung. Man mag es Charisma nennen, wenn einen das beruhigt, weil es das Bedürfnis nach einer gewissen begrenzten Logik stillt. Doch das war genau die Falle der Rationalität, über die Guru-ji am Ende seines Vortrags an diesem Abend sprach.
»Horcht mit dem Herzen«, sagte er. »Die Rationalität kann auf dem Weg zur Weisheit stehen wie ein Wachmann mit seinem Lathi. Logik ist gut, Logik ist mächtig, wir setzen sie jeden Tag ein. Sie gibt uns die Kontrolle über die Welt, in der wir leben, sie macht unser tägliches Leben möglich. Doch selbst die Naturwissenschaftler sagen uns, daß unsere Alltagslogik letztlich nicht ausreicht, um die Realität der Welt, in der wir leben, zu beschreiben. Die Zeit schrumpft zusammen und dehnt sich aus, das wissen wir von Einstein. Das All ist in sich gekrümmt. Auf einer Ebene unterhalb des Atoms durchdringen sich Teilchen gegenseitig, und ein Teilchen kann an zwei verschiedenen Orten zugleich existieren. Die Realität, die tatsächliche Realität, ist die Vision eines Wahnsinnigen, eine Halluzination, die der einzelne kleine Menschenverstand nicht erfassen kann. Ihr müßt das Ich sprengen, müßt
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